Ökonomische Denkversuche: die Euro-Unwucht

Keine Fleißarbeit. Deutschlands Außenhandelsüberschüsse innerhalb Eurolands sind Ergebnis einer überparteilichen Industriepolitik. Diese ist für die Eurokrise mindestens mitverantwortlich.

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A. Einleitung

Der hier folgende Blick auf die Ungleichgewichte in den amerikanisch-chinesischen Handelsbeziehungen, die den Anstoß zu meinen Denkversuchen im europäischen Kontext gibt, ist nicht mein eigener Blick - dazu reichen meine volkswirtschaftlichen Kenntnisse nicht aus. Mein Beitrag bezieht sich in dieser Hinsicht auf einem Blogpost des amerikanischen Finanzprofessors Michael Pettis (oder jedenfalls auf meine Auffassung seines Posts) vom Juni 2011.

Mein Beitrag ist also längst nicht "fertig" - er ist auf Leser-Input angewiesen.

Die meisten Leser des Michael-Pettis-Blogs sind Amerikaner und Chinesen. 2011, in seinem ökonomischen Beispiel für Handelsungleichgewichte, entschied sich Pettis dafür, das idealtypische Land mit einem Außenhandelsüberschuss "Deutschland", das idealtypische Land mit einem Außenhandelsdefizit hingegen "Spanien" zu nennen. Damit hoffte er, Diskussionen unter seinen chinesischen und amerikanischen Lesern und Kommentierern weniger emotional gestalten zu können. Europäische Leser hat er wohl nicht so viele.

Da es sich bei Ländern, die hohen Sparquoten und Exportüberschüssen eine überdurchschnittlich hohe Priorität einräumen, um China, um Deutschland oder andere Länder handeln kann, setzte Pettis "Deutschland" und "Spanien" in Anführungszeichen. Sie sind (bedingt) ersetzbar durch andere Länder in ähnlichen Situationen. Ich folge diesem Beispiel.

Hierzu noch eine Anmerkung zur realen Welt: Deutschland und Spanien (oder auch Deutschland und Griechenland) sind durch eine gemeinsame Währung - eben dem Euro - verbunden. China passt den Wechselkurs seiner Währung mehr oder weniger eng dem US-Dollar an. Insofern entfällt der "freie Wechselkurs", innerhalb dessen das Land, das jeweils unter relativer Wettbewerbsschwäche leidet und langfristige Außenhandelsdefizite verzeichnet, seine Wettbewerbsfähigkeit durch Abwertung seiner Währung stärken könnte. Dies gilt hier zum Beispiel für Amerika (in seinen Handelsbeziehungen zu China) und zum Beispiel für Spanien (in seinen Handelsbeziehungen zu Deutschland).

B. Situation in "Deutschland"

Für "Deutschlands" Wirtschaftspolitik sind laut Pettis folgende Punkte charakteristisch:

  • eine unterbewertete Währung
  • niedrige Löhne relativ zur Produktivität
  • hohe explizite bzw. implizite Verbrauchs- und Einkommenssteuern
  • eine hochwertige Infrastruktur, subventioniert mit Hilfe solcher Steuern.

Die unterbewertete Währung sowie die niedrigen Löhne bedeuten eine Senkung der Haushaltseinkommen. Gleiches gilt für Verbrauchs- und Einkommenssteuern. Mit diesem Steueraufkommen subventioniert der Staat die Infrastruktur und reduziert damit die Produktionskosten in "Deutschland".

Anders gesagt: das Bruttoinlandsprodukt "Deutschlands" steigt schneller als die Einkommen seiner Haushalte. Die Differenz aus dem (größeren) Bruttoinlandsprodukt und der (kleineren) Summe der Haushaltseinkommen sind die "deutschen" Ersparnisse.

Bildlich stelle ich mir Pettis' Darstellung so vor:

http://justrecently.files.wordpress.com/2013/02/bruttoinlandsprodukt.jpg

Soweit es um seine - vielleicht zwingende, vielleicht auch nicht - Verbindung zwischen überbewerteten oder unterbewerteten Währungen einerseits und niedrigen oder hohen Sparquoten andererseits geht, wendet sich Pettis an diejenigen Leser, die einer solchen logischen Verbindung skeptisch gegenüberstehen, und hält ihnen vor: empirisch betrachtet gebe es die Tendenz, dass Länder mit klar unterbewerteten Währungen höhere Sparquoten aufwiesen, und Länder mit überbewerteten Währungen niedrige Sparquoten. Dies sei kein Zufall. Der relative Wert der Währung könne eine direkte Auswirkung auf die Differenz zwischen dem Wachstum der Haushaltseinkommen und dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts haben, und wo das der Fall sei, müsse er per Definition die Höhe der Sparbeträge beeinflussen.

C. Situation in "Spanien"

Während "Deutschlands" Währung unterbewertet, seine Löhne im Verhältnis zur Produktivität niedrig, seine Verbrauchs- und Einkommenssteuern hoch und seine Infrastruktur mit Hilfe dieser Steuermittel hoch subventioniert ist, ist in "Spanien" das Gegenteil der Fall. Das hat zunächst einmal erfreuliche Auswirkungen für die "Spanier": ihre Haushaltseinkommen sind relativ hoch. Sie können Produkte einkaufen, die vom "deutschen" Staat und von lohnverzichtenden deutschen Arbeitnehmern subventioniert und entsprechend günstig zu haben sind (damit ergibt sich eine real gesteigerte "spanische" Kaufkraft). Es handelt sich bei den von "Spaniern" gekauften Produkten um eben die, welche sich die "Deutschen" - mit ihren im Verhältnis zu ihrem Bruttoinlandsprodukt kleineren Haushaltseinkommen - nicht haben leisten können. Daher der "deutsche" Außenhandelsüberschuss gegenüber "Spanien".

Das Problem für "Spanien": verglichen mit "Deutschland" sind auch die Produktionskosten in "Spanien" hoch - das Land ist für Produktionsstätten damit nicht der Standort erster Wahl. Arbeitsplätze entstehen also vor allem in "Deutschland".

Nun gibt es in der Volkswirtschaftslehre einen Lehrsatz, an den ich mich dunkel aus meiner Berufsschulzeit erinnere: Sparen = Investitionen. Und Pettis fügt diesem Lehrsatz hinzu, dass die Produktion von Gütern und Dienstleistungen minus Konsum die Sparbeträge ergibt (vergleiche Abbildung oben, unter "B". Wenn das BIP-Wachstum in "Deutschland" höher sei als das Wachstum des Konsums, sei eine höhere Sparquote also zwangsläufig die Folge. Das habe mit kulturellen Eigenschaften der "Deutschen" einerseits und der "Spanier" andererseits nichts zu tun.

Hier muss ich (zu meinem eigenen Verständnis der Zusammenhänge) einen weiteren Blogpost Pettis' hinzuziehen: in "Deutschland" übersteigen die Ersparnisse die Investitionen. Also muss es in "Spanien" umgekehrt sein, damit die Gleichung "Sparen = Investitionen" trotzdem aufgeht, damit also das Gleichgewicht erhalten bleibt.

Folgen wir den Forderungen der "deutschen" Politik an die "Spanier", müsste "Spanien" ebenso wie Deutschland die Sparquote erhöhen und die Investitionen zurückfahren. Damit wäre Sparen > Investitionen, und das funktioniert nur, wenn der Rest der Welt, außerhalb "Deutschlands" und "Spaniens" umso mehr investiert. Und damit ein Blick in die reale Welt:

Chinas Forderungen an amerikanische Verbraucher, mehr zu sparen, ähnelt den deutschen Forderungen an die europäischen "Krisenländer". Wenn aber sowohl Deutschland, Griechenland und Spanien, als auch China und Amerika (jetzt mal ohne Anführungszeichen) mehr sparen als investieren - wer in der Welt soll dann noch investieren? Hersteller investieren aufgrund der Erwartung, dass die Nachfrage zunimmt - wo soll die Nachfrageerwartung herkommen, wenn überall zunehmend gespart wird?

Jetzt gibt es lt. Pettis zwei Möglichkeiten:

  • der Rest der Welt kann Investitionsprogramme anschieben, die herzlich wenig Nutzen stiften, einfach, damit die erhöhten Ersparnisse in Deutschland, Griechenland, Spanien, China und den USA irgendwie / irgendwo investiert werden (ich stelle mir vor: zum Beispiel in überflüssige fünfte, sechste, siebte und achte Autobahnspuren in Ländern, in denen es gar nicht viele Autos gibt, oder in Eisenbahnnetze, die unter Kosten-Nutzen-Kriterien bereits optimal ausgebaut sind). Nachhaltig aber wird das nicht funktionieren (gemeint ist wohl: Investitionen, die sich nicht amortisieren, hält nicht einmal die öffentliche Hand durch).
  • der Rest der Welt zwingt die Sparquoten der zuvor aufgezählten Länder dazu, wieder zu sinken. Pettis rhetorische Frage: Und wie das? Antwort: Ganz einfach: [in aller Welt] jede Menge Arbeiter feuern, die Arbeitslosigkeit hochfahren, und Sparen und Investitionen kommen wieder ins Gleichgewicht - allerdings auf sehr viel niedrigerem Niveau, passend zur nun weitaus höheren Arbeitslosigkeit.

D. Langfristiges Gleichgewicht

Jetzt wird es Zeit für mich, mich von Pettis Ausführungen zu lösen. Er stellte 2011 - für mich nachvollziehbar - dar, warum Stereotypen wie, sagen wir mal, "faule Griechen", "fleißige Deutsche", "konsumbesoffene Amerikaner", "fleißige Chinesen" usw. keine Antwort auf die Frage lieferten, warum die Handelsbeziehungen aus dem Gleichgewicht seien. Ganz im Sinne eines vereinfachten Modells schaltet er in seiner Darstellung auf Entweder-Oder, nicht auf Sowohl-als-auch. Von kulturellen Prägungen will er nichts wissen. Das greift möglicherweise etwas zu kurz, macht aber das Lesen einfacher.

Insbesondere in amerikanischen Medien liest man gelegentlich den Vorwurf gegen Chinas Wirtschaftspolitiker, sie seien "Merkantilisten". Merkantilismus beinhaltet hier den Vorwurf, der "freie (Welt)handel" werde industriepolitisch manipuliert.

Vielleicht enthalten griechische Zeitungen ähnliche ja Vorwürfe gegen Deutschland - in "unseren" Zeitungen wird dieser Vorwurf an unsere eigene Adresse allerdings nur selten erhoben.

Vielleicht, weil das hier keiner lesen möchte. Etwas nationale Selbstüberhebung ist schließlich gut für die Selbstachtung.

Aber etwas anderes kommt hinzu: Seit die Regierung Schröder 2004 die "Agenda 2010" aus der Taufe hob, ist die Rede von einer "großen Koalition". Immerhin waren nicht nur die Regierungsparteien SPD und Grüne, sondern per Bundesrat auch die CDU/CSU an der Entwicklung und Umsetzung dieser "Agenda" (inklusive den "Hartz-Reformen") beteiligt. Und wie eng Politik und Presse einander verbunden sind, hat ja vor kurzem der Medienforscher Uwe Krüger herausgearbeitet.

Allerdings hatte Pettis wohl keine "Verschwörungstheorie" im Auge, der zufolge ein Wettlauf um die größte Wettbewerbsfähigkeit zu Lasten des Konsums stattfinden solle. Immerhin lassen sich seinem "Deutschland-Spanien-Modell" auch andere Überlegungen hinzufügen.

Zum Beispiel mag eine deutsche Industriepolitik durchaus mehr Gründe dazu haben, großes Gewicht auf eine hohe Sparquote zu legen als die Regierungen der meisten anderen Euroländer. Baby-Boomer gibt es zwar überall, aber in kaum einem anderen Land ist die Geburtenrate so gering wie in Deutschland. Die deutschen Baby-Boomer haben also jede Menge Grund zum Sparen - auf Beitragszahler der nächsten Generation dürfen sie zur Finanzierung ihrer Renten nicht zählen. Eine Industriepolitik, die solches Sparen begünstigt, wäre nicht notwendigerweise willkürlich, sinnfrei oder von Partikularinteressen (z. B. der Exportindustrie) geleitet.

Auch darum wäre die Vorstellung weltfremd, Außenhandelsüberschüsse dürfe es gar nicht geben. Das behauptet übrigens auch Pettis im Rahmen seines Modells nicht.

Das Problem der deutschen Fixierung aufs "Sparen" besteht aber in jedem Fall darin, dass eine exzessive deutsche Sparquote zu Lasten z. B. Spaniens nicht nachhaltig ist - wie sich mit der Euro- oder "Schuldenkrise" Südeuropas erwiesen hat. Und ein "Wett-Sparen" zwischen den Euroländern würde die Lebensstandards im ganzen Euroland senken - und die Weltwirtschaft weiter belasten.

Gefragt wäre also vermutlich ein "New Deal".

Aber wenn schon die existierenden wirtschaftspolitischen Methoden nicht öffentlich diskutiert werden, geht das bei etwaigen Alternativen dazu wohl noch viel weniger.

Über die Zukunft Europas wird viel geschrieben. Meinung ist wichtig. Aber ganz ohne Wirtschaftstheorie geht es wohl auch nicht. Mit diesem Beitrag versuche ich, mir die Entscheidungen, vor denen Europa (und "Euroland") stehen könnten, deutlicher zu machen.



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