Propaganda als "Bildungsergänzung"

spin-doctoring Edward L. Bernays PR-Strategien sind beides: diskreditiert und immer noch gerne angewandt. Würden wir wirklich gerne auf sie verzichten, oder behaupten wir das nur?

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Im Jahr 1955 schrieb Edward L. Bernays, ein PR-Ratgeber in New York City, eine Darstellung dessen, was er unter dem engineering of consent, der Konstruktion des Konsenses, verstand. Eine acht Jahre zuvor veröffentlichte Abhandlung darüber ist hier nur per Abo verfügbar. Bernays verstand diese Konstruktionsarbeit als eine Art Medienarbeit, die der Stabilisierung demokratisch verfasster Gesellschaften dienen solle. Engineering of consent sei Teil der demokratischen Freiheit des Überredens (oder auch des Überzeugens). Demokratische Führer müssten die Öffentlichkeit mit Hilfe dieses Engineerings zur Erreichung konstruktiver Ziele und Werte führen.

In Deutschland und zum Teil sicherlich auch darüber hinaus beschleicht viele die große Kälte des Wiedererkennens, wenn sie solche Sätze hören. Bernays sei ein früher Naiver gewesen, und man könne auf Bernays nicht mehr schauen, ohne Goebbels und den Sportpalast zu hören, zitierte der Deutschlandfunk im Oktober 2012 Klaus Kocks, einen Unternehmensberater und Honorarprofessor für Unternehmenskommunikation. Goebbels soll ein begeisterter Anwender seiner Techniken gewesen sein.

An Bernays Naivität schien sich bis 1955 nicht viel geändert zu haben - auch wenn er die Anwendung seiner Propagandatechniken durch die Nazis nicht völlig ignorierte:

Es ist heute unmöglich, die Bedeutung der Konstruktion von Konsens zu überschätzen; sie beeinflusst fast jeden Aspekt unseres täglichen Lebens. Wird sie für gesellschaftliche Zwecke benutzt, gehört sie zu unseren wertvollsten Beiträgen zum effizienten Funktionieren einer modernen Gesellschaft. Die Techniken können untergraben werden; Demagogen können diese Techniken mit ebenso viel Erfolg für antidemokratische Zwecke verwenden wie diejenigen, die sie zu gesellschaftlich wünschenswerten Zwecken verwenden. Der verantwortungsvolle Führer muss sich der Möglichkeiten der Untergrabung daher stets bewusst sein, will er gesellschaftliche Ziele erreichen. Er muss seine Energien darauf verwenden, das operative Know-how zur Konstruktion von Konsens zu beherrschen und seine Gegner im öffentlichen Interesse ausmanövrieren.

Bernays mag vor den 1930ern naiv an die Möglichkeiten seiner "Sozialtechnik" geglaubt haben, ohne ihre Risiken (oder auch ihre generelle Fragwürdigkeit) zu erkennen. Den menschlichen "Herdeninstinkt" allerdings kannte und fürchtete er.

Aber einem verzagten Arsch entfährt kein fröhlicher Furz, und so gibt sich auch die 1955er Betrachtung des engineering of consent zwar beiläufig problembewusst, vor allem aber ungebrochen optimistisch.

Allerdings will Bernays - 1955 - das engineering nicht als Ersatz für eine informierte Öffentlichkeit verstanden wissen, sondern als eine Brücke zwischen gesellschaftlicher Notwendigkeit (wie von der "Führung" wahrgenommen) und der Bildung. Theoretisch und praktisch solle das engineering auf der vollkommenen Einsicht derer basieren, die man "gewinnen" wolle:

Aber es ist manchmal unmöglich, gemeinsame Entscheidungen auf der Basis der Einsicht aller Menschen zu erreichen. Der durchschnittliche amerikanische Erwachsene hat nur sechs Schuljahre hinter sich. Bei drängenden Krisen und zu treffenden Entscheidungen kann ein Führer oftmals nicht warten, bis die Menschen auch nur ein Allgemeinverständnis entwickelt haben. In manchen Fällen müssen demokratische Führer ihre Rolle spielen, die Öffentlichkeit durch das engineering of consent zu gesellschaftlich konstruktiven Zielen und Werten zu führen.

Unter keinen Umständen sollte das engineering of consent die Funktionen des Bildungssystems formell oder informell ersetzen, um eine Einsicht der Menschen als Basis für ihr Handeln herbeizuführen. Würden höhere Bildungsstandards erreicht und das allgemeine Level öffentlichen Wissens und Verstehens im Ergebnis gesteigert, behielte diese Herangehensweise trotzdem behalten.

Selbst in einer Gesellschaft perfektionistischer Bildungsstandards ist nicht der gleiche Fortschritt auf jedem Gebiet erreichbar. Es würde immer Zeitverzögerungen, blinde Flecken und Schwachpunkte geben, und das engineering of consent wäre immer noch erforderlich. Das engineering of consent wird immer als Ergänzung oder Partner des Bildungsprozesses benötigt werden.

Erkenntnisse der Grundlagenforschung scheinen den Annahmen, die Bernays seinen angewandten Techniken zu Grunde legte, zu folgen: brain scanners can see your decisions before you make them, fasste eine Schlagzeile des Wired im April 2008 Experimente des Hirnforschers und Psychologen John Dylan-Haynes zusammen. Haynes folgte damit Experimenten des amerikanischen Physiologen Benjamin Libets, der Anfang der 1980er mit einem Experiment die Annahme nahelegte, dass nicht jede Handlung das Ergebnis bewusster Entscheidungen sei.

Für den Hirnforscher Wolf Singer galt 2003 allerdings nicht einmal wie noch für Libeth, der "freie Wille" existiere in dem Sinne, dass unbewusst vorbereitete Handlungen durch eine ethisch motivierte Abwägung gestoppt werden könnten - dass also ein "free won't", ein moralisches "Veto" der Bereitschaft zu unethischen Handlungen entgegenstehen könnten. Damit, so Singer, stehe dann aber auch das Prinzip der Schuldfähigkeit in einem ganz neuen Licht da: es sei so gesehen Pech, eine so niedrige Tötungsschwelle zu haben wie ein kaltblütiger Mörder.

Betrachtet man die Entstehung von individuellen Willensbildungsprozessen - wenn solche Begriffe denn unter Singers oder Haynes' Blickwinkel Sinn ergeben - als genetisch und durch langfristige, vorangegangene Lernprozesse vordefinierte Momente, bestünde die "Bildung", von der Bernays 1955 schrieb, in eben solchen Lernprozessen und in solchen Vordefinitionen. Der Bildungsbegriff erhielte damit eine weit weniger idealistische Bedeutung als den der Verständnis- oder Einsichtsfähigkeit.

Mit dem engineering of consent, hin auf gesellschaftlich konstruktiven Ziele und Werte, würde Singer allerdings wohl kaum etwas zu tun haben wollen. Von seiner Sicht des neuronal geprägten Willens verspreche er sich, dass diejenigen unglaubwürdig würden, die vorgeben, sie wüssten, wie das Heil zu finden ist.

Das wiederum würde wenig daran ändern, dass das engineering funktioniert. Und es würde auch nichts daran ändern, dass es sich ausmanövrieren lässt.

And everybody is happy lautete ein Satz, den Bernays gerne zum Schluss von Vorträgen und Ansprachen zu seinem Thema brachte. Die Vermutung liegt nahe, dass die Anwendung von Wissensersatz überhaupt nicht glücklich macht - schon gar nicht, wenn die Rezipienten dabei das ungute Gefühl beschleicht, sie würden - "mal wieder" - manipuliert.

Auffallend ist dabei, wie sehr sich das spin doctoring nicht nur in der politischen Klasse, sondern auch in alltäglichen politischen Diskussionen zwischen Normalbürgern etabliert hat. Auch zur politischen Alltagskultur scheint von links bis rechts gerade das zu gehören, was doch angeblich so sehr zur Politikverdrossenheit beiträgt.

Es funktioniert also immer noch.

Dieses Thema ist nicht mein Fachbereich. Mein Interesse wurde durch diese Diskussion geweckt und scheint zum Verständnis politischer Willensbildungsprozesse relevant zu sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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