Rückblick: Augustputsch in Moskau 1991

Plot of the Doomed. Das Internet war 1991 noch fast unbekannt. Trotzdem gab es eine weltweite Auswahl an Medien: das Kurz- und Mittelwellenradio. Eine große Hilfe für den Barfußhistoriker.

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Plus ca change, plus c'est la meme chose - das war John K. Fairbanks Leitmotiv bei der Betrachtung der chinesischen Geschichte und Gegenwart. Und nicht nur Chinesen, auch Sinonlogiehistoriker mögen es belächeln, wenn ein Vierteljahrhundert für "Geschichte" gehalten wird. Aber die Subjektivität des Amateurs vorausgesetzt, lassen sich in den Jahren der Perestroika, des Augustputsches 1991 und in der Entwicklung Russlands bis heute Brüche und Kontinuitäten erkennen.

Eine Kontinuität von den 1970er Jahre bis heute besteht darin, dass Moskau und der Westen, wo immer das beiden Seiten sinnvoll erscheint, Geschäfte miteinander machen. Die Schlussakte von Helsinki, am 1. August 1975 in Helsinki von den USA und Kanada, allen europäischen Staaten außer der Tschechoslowakei und von der Sowjetunion unterzeichnet, wäre ohne die sich in den 1970er Jahren intensivierende wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und dem Westen wohl kaum zu Stande gekommen. Auch Differenzen zwischen Europa und den USA über Art und Umfang des Osthandels gab es auch schon in den 1980ern. Zum Beispiel der sowjetische Einmarsch in Afghanistan führte zu einem Embargo auf Öl- und Gasförderausrüstung durch die USA. Europa hingegen behielt seinen Handel mit Moskau bei.

Afghanistan ist ein Stichwort für ein weiteres Kontinuum - den Ost-West-Konflikt. Die Trendlinie dieses Konflikts zeigt - ungeachtet einer kurzen Intensivierung in den letzten Amtsjahren James Carters und [Update: den ersten Amtsjahren] Ronald Reagans - nach unten, und während der kurzen Ära Gorbatschows konnte man fast vergessen, dass es diesen Konflikt überhaupt noch gab. 1987 war Michail Gorbatschow in Westdeutschland populärer als der seinerzeit amtierende Kanzler Helmut Kohl, und populärer als Ronald Reagan war er sowieso.

Aber der Konflikt habe nie geendet, zitierte der damalige Norwegen-Korrespondent Radio Schwedens, Tony Samstag, während des Putsches 1991 einen namentlich nicht genannten "American based in Oslo":

There are, he implied, probably as many Soviet agents around as there ever had been, and some of these are working deep within the Norwegian establishment. In off-the-record remarks just a few weeks ago he added, press replay, and I quote: "The U.S. and the and Soviets are still adversaries. This thing goes right on. It's a game that continues, if only because no one can be sure what is going to happen next.

Gäbe es den American-based-in-Oslo heute noch, würde er wohl Ähnliches sagen wie damals, vielleicht mit dem Unterschied, dass die Spionage von Agenten auf elektronische Halbautomatik übergegangen seien. Das Arbeitsamt schicke den Geheimdiensten ja sowieso nur noch Idioten.

Mit Gorbatschows Umgestaltungsversuchen trat auch die Wirtschaftskrise der UdSSR offen zutage. Der spätere Vizepräsident und Putschist Gennady Yanayev warnte 1990, damals noch in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des sowjetischen Gewerkschaftsrat, vor dem Verlust von bis zu zwölf Millionen Arbeitsplätzen. Die Sowjetunion sei auf eine solche Arbeitsmarktkrise nicht vorbereitet und werde wohl kaum binnen weniger Wochen ein Netz sozialer Sicherheit aufbauen können, vermutete Anfang 1991 die "Seattle Times".

Davon, dass dieser Weg in der Sowjetunion populär gewesen sei, sollte ohne nähere Belege niemand ausgehen. Aber auch im von Yanayev geführten "Notstandskomitee", mehr oder weniger amtierend vom 19. bis 21. August 1991, versprach sich die Bevölkerung in Moskau offenbar nicht viel.

Den größten und entscheidenden Mobilisierungserffekt erzielte jedenfalls Boris Jelzin, der damalige Präsident der Russischen Föderation - damals noch Teil der UdSSR.

Die Auswahl an Tondateien enthält Mitschnitte damaliger Radiosensendungen aus Moskau, Stockholm, London und Washington, auf Kurz- und Mittelwelle. Sie enthalten wenig Information über das, was die Bevölkerung Moskaus oder Tallinn und konzentrieren sich statt dessen auf die politischen Ereignisse und die leaders of events. Das bedeutet eine erhebliche Lücke, hilft aber zumindest gemäß Fairbank, dann vielleicht auch damit zu beginnen, the common people zu verstehen.

Meine Aufgabe kann das allerdings nicht sein - dafür ist Russland für mich zu weit weg. Das ist - bei Interesse - Sache von Foristen, die näher dran sind.

Beim Stöbern durch die Tondateien wünsche ich viel Vergnügen, und den Älteren vielleicht auch den einen oder anderen Wiederekennungseffekt. Für HiFi-verwöhnte Ohren empfehlen sich Kopfhörer, um überhaupt etwas zu verstehen.

  • Radio Moskau (Deutsch), 19.08.91, 10 Uhr Weltzeit, Nachrichten
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  • Radio Moskau (Deutsch), 19.08.91, 10 Uhr Weltzeit, Wiedergabe der Erklärung des "Notstandskomitees"
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  • BBC World Service, 19.08.91, 11 Uhr Weltzeit, Nachrichten, Rede Boris Jelzins vor dem Moskauer Parlament, Ankündigung einer Sitzung des Russischen Obersten Sowjets am 20.08.91
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  • BBC World Service, 19.08.91, 11 Uhr Weltzeit - Ausländische Reaktionen: Stellungnahme John Majors, Reaktionen aus Washington, Bonn, Brüssel, Tokio, Beijing
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  • BBC World Service, 19.08.91, 11 Uhr Weltzeit: Washingtons Unterstützung für Gorbatschow ist an Bedingungen gebunden
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  • BBC World Service, 19.08.91, 11 Uhr Weltzeit: Reaktionen in Deutschland und Mittel-/Osteuropa
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  • Radio Schweden, 19.08.91, 22 Uhr Weltzeit: Stellungnahme des konservativen Oppositionsführers Carl Bildt (heute schwedischer Außenminister), auf einer Montagsdemonstration von Balten und Schweden in Stockholm am 19.08.
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  • Radio Schweden, 19.08.91, 22 Uhr Weltzeit: Reaktionen aus Oslo, Kopenhagen, Helsinki, Reykyavik und Tallinn
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  • BBC Radio 4, 20.08.91, Nachrichten: die "neue Regierung" sehe sich Verurteilungen aus dem Westen und Widerstand Moskauer Demonstranten gegenüber; Weltbank lässt Vorschlag zur Bildung eines 30-Mio-Dollar-Fonds für technische Hilfe für die Sowjetunion fallen; die Zeitung "Kurante" erscheint in Kopiererausdrucken, titelt Conspiracy of the Doomed
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  • Radio Moskau (Deutsch), 20.08.91, 10 Uhr Weltzeit: Verlesung eines Kommuniqués des "Notstandskomitees, das die Führung der russischen Führung um Jelzin und Chasbulatow kritisiert (wahrnehmbare Distanz zu dieser Kritik bei der Wiedergabe durch die Nachrichtensprecherin)
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  • Radio Moskau (Deutsch), 20.08.91, 10 Uhr Weltzeit: Pressekonferenz des "Notstandskomitees" am 19.08.91 (Yanayev: Reaktionen aus dem Ausland "zurückhaltend genug" / außenpolitische Verpflichtungen, auch gegenüber Deutschland, werden eingehalten)
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  • Voice of America, 20.08.91, 21:31 Weltzeit: EG-Außenminister finden bei Treffen in Den Haag starke Worte der Verurteilung für den Staatsstreich, kündigen Aussetzung wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit UdSSR an (Wert: "hunderte Millionen Dollars" an Nahrungsmittelkrediten und technische Hilfe) und will Delegation für ein Treffen mit Gorbatschow nach Moskau schicken
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  • Voice of America, 20.08.91, 21:31 Weltzeit: Amerikanische Aussetzungen wirtschaftlicher Zusammenarbeit (Stellungnahmen Bush, Lugar, Biden), Gorbatschows Teilnahme an G7-Gipfel im Vormonat (Juli), Aussetzung von Nahrungsmittelkreditgarantien und einer Chevron-Beteiligung an einem joint-venture in Kasachstan
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  • Radio Schweden, 20.08.91, 22:00 Uhr Weltzeit: Nordic-Countries-Außenminister veröffentlichen nach jährlichem Gipfel in Kopenhagen Stellungnahme, die auf finnischen Wunsch weniger hart ausfällt als die der EG-Außenminister / Reaktionen im einzelnen / schwedische Hilfen für baltische Staaten
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  • Radio Schweden, 20.08.91, 22:00 Uhr Weltzeit: Telefon mit estnischem Außenminister Lennart Meri (später estnischer Präsident). Patzer wie der über human losses kamen in Interviews anderer Politiker mit Radio Schweden ebenfalls gelegentlich vor; mangels Internet boten sich einem schadenfrohen Publikum aber kaum Möglichkeiten einer zielgruppengenauen Weiterverbreitung
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  • Radio Moskau (Deutsch), 21.08.91, 10:01 Weltzeit: Nachrichtensprecherin wählt teils rebellische Begriffe zur Wiedergabe amtlicher Bekanntmachungen / Berichterstattung zur Pressekonferenz Yanayevs, zu Erklärung des Komitees für Verfassungsaufsicht, (enthält Aufforderung an den Obersten Sowjets der UdSSR), Kommuniqués des "Notstandskomitees"
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  • BBC World Service, 21.08.91, 12 Uhr Weltzeit: Rede Jelzins im russischen Parlament: Putschisten versuchen angeblich, Moskau zu verlassen; KGB-Chef Vladimir Kryuchkov bietet Jelzin Treffen mit Gorbatschow und Rückkehr Gorbatschows nach Moskau an; KPdSU-Führung fordert Gelegenheit zu Treffen mit Gorbatschow
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  • Radio Moscow World Service, 21.08.91, 13:00 Uhr Weltzeit: stellvertretender KPdSU-Generalsekretär Vladimir Ivashko verlangt Treffen mit Gorbatschow / neuer U.S.-Botschafter Robert Strauss trifft in Moskau ein; wird jedoch zur Übergabe seines Beglaubigungsschreibens nicht mit Vertretern des "Notstandskomitees" zusammentreffen

Eigentlich stand das Kurzwellenradio weitgehend ungenutzt herum. Aber es waren Semesterferien, ich war zu Hause und hatte viel Zeit für das, was Radio Moskau, die BBC oder Radio Schweden zum Moskauer Putsch zu sagen hatten.

Die Tondateien sind herunterladbar und bleiben mindestens sieben Tage online. Die darauf enthaltenen Programmbeiträge sind nicht mein Werk - wenn schon, muss sich jeder Anwender in spe mit den Sendeanstalten bzw. ihren Rechtsnachfolgern auseinandersetzen, die sie seinerzeit ausstrahlten.

Bei öffentlicher Verwendung erwarte ich allerdings eine Erwähnung dieses Blogs:

JR's WP China Blog

Man dankt im Voraus.

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Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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