"Sohn der gelben Erde": Xi Jinpings Maoismus

China sucht den Giganten Im dritten Jahr im Parteiamt zeichnen sich die politischen Grundlinien Xi Jinpings deutlicher ab. Ein Rückblick auf 2015, und Versuch einer geschichtlichen Einordnung.

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In einem kurz vor Weihnachten in der FAZ veröffentlichten Artikel zitiert der im deutschen Exil lebende Schriftsteller Liao Yiwu aus einem Brief Liu Xiaobos, geschrieben um die Jahrhundertwende über zum Demokratiethema schweigende chinesische Elite. Demnach schrieb Liu:

Geschichte [...] ist so zufällig wie das Bauernkind, das vor zweitausend Jahren in einer Krippe geboren wurde und am Kreuz starb. Der Fortschritt der Menschheit hängt von solchen Zufällen ab. Man kann sich nicht auf das kollektive Gewissen verlassen, man braucht das Gewissen einer Persönlichkeit, die die Massen aufzuwühlen vermag. Vor allem ein Volk wie unseres bedarf einer moralischen Größe mit vorbildlicher und unerschöpflicher Kraft zur Inspiration, ein Symbol, das die moralischen Ressourcen der anderen mobilisiert. Es fehlt an einem mutig voranschreitenden Giganten. Daher die Stille und das Vergessen nach Tiananmen.

Der letzte Gigant, körperlich nicht gerade ein Riese, war 1997 gestorben. Seine Wirtschaftsreformen hatten Deng Xiaoping zum politischen Riesen gemacht. Zur Zeit des Tian'anmen-Massakers 1989 war Deng noch Vorsitzender der Militärkommissionen. Ein großer Mann im von Liu Xiaobo definierten Sinne war er sicher nicht gewesen.

Deng folgten als faktische Machthaber Jiang Zemin (Parteichef von 1989 bis 2002) und Hu Jintao (2002 bis 2012). Beide allerdings erreichten nie die Machtfülle, über die Deng oder Mao zeitweise verfügt hatten. In der Amts- und Pressesprache Chinas handelte es sich üblicherweise um das Führungskollektiv mit Jiang (bzw. Hu) als Kern. Das war - auch auf Chinesisch - eine ziemlich sperrige Redewendung, aber sie war wichtig.

1989 - 2012: Zeit der Führungskollektive

Der Grund dafür, dass die Zentralmacht in größerem Umfang als bisher auf den ständigen Ausschuss des Politbüros - auf das Kollektiv - übergegangen war, dürfte wiederum bei Deng Xiaoping gelegen haben.

Der Tibetologe Wang Lixiong begründet das mit Maos Erfolglosigkeit, während der 1970er Jahre einen seiner politischen Erben durchzusetzen (Deng war vermutlich nicht seine Wahl), als auch damit, dass Deng selbst zwei von ihm selbst bestimmten Parteichefs wieder fallenließ - Hu Yaobang 1987, und Zhao Ziyang 1989. Eine Wiedergabe von Wangs Ehefrau Woeser, verbreitet von "Radio Free Asia"'s tibetischen Sprachdienst:

Deng lernte aus dieser bitteren Erfahrung und tat etwas Beispielloses: er ernannte zwei Generationen von Nachfolgern, Jiang Zemin und Hu Jintao. Eine Generation musste die Führung nach zwei Amtsperioden an die andere abgeben - nach zehn Jahren. Diese Regelung hatte den Vorteil, dass eine gegenseitig beschränkende Beziehung zwischen den Generationen von Nachfolgern bestand. Als Jiangs Zeit vorüber war, musste er die Führung an Hu abgeben und da er nicht den Mut entwickelte, das aufgeblähte Ego Deng Xiaopings zu verraten, würde er dann unter der Autorität Hus stehen. Um sich zu schützen, vermied er eine Auseinandersetzung zwischen [seiner Gruppe und Hus Jugendliga-Gruppe]. Hu wiederum musste sich auf die Legitimation verlassen, die er von Deng erhalten hatte. Um nicht die Bühne [schon vor seinem Amtsantritt] in Armut und Elend zu verlassen wie viele Nachfolgekandidaten vor ihm, war es ihm ein Anliegen, Dengs Ideen als seine leitenden Prinzipien zu betrachten, und diese mit allen seinen Fähigkeiten zu schützen.

Als Jiang Zemin seine Staats- und Parteiämter an Hu Jintao abgab, habe er seinerseits Xi Jinping zum Nach-Nachfolger bestimmt, so Wang.

Tatsache ist, dass das "Boot" der KP Chinas erstaunlich wenig schaukelte, weder in der Übergangsphase um 1989 zu Jiang Zemin, noch um 2002 zu Hu Jintao, noch um 2012 zum derzeitigen Amtsinhaber Xi Jinping. Sowohl im Falle Hus als auch Xis hatten sich die Nachfolgeregelungen schon zur Halbzeit der jeweiligen Amtsinhaber für interessierte Nachrichtenleser erkennbar abgezeichnet, und anders als in der Vergangenheit gab es keine großen Überraschungen mehr. Papstwahlen waren spannender.

Stilwechsel: der dominante Parteichef

Wieviel der Parteiführung im Herbst 2012 an einer sowohl beruhigenden als auch inspirierenden medialen Vermittlung der Übergangsphase von Hu Jintao zu Xi Jinping lag, drückt sich im Ergebnisprotokoll des zentralen State Internet Information Office nach einer Versammlung "mit allen Internet-Informationsämtern auf Provinzebene, regionalen Ebenen und städtischen Ebenen" aus, das zu "größten Anstrengungen und akribischen Maßnahmen zur Schaffung einer guten Atmosphäre in der öffentlichen Meinung" aufrief.

Nicht ohne Erfolg: Xi Jinping dürfte der populärste Machthaber Chinas seit Deng Xiaoping sein. Dafür allerdings reicht die zentrale Orchestrierung der "guten Atmosphäre" nicht hin.

Was Xi Jinping sehr half, war vermutlich der Einfluss seines Vor-Vorgängers Jiang Zemin, und eine hohe Kooperationsbereitschaft seines unmittelbaren Vorgängers Hu Jintaos - sei es aus politischer Schwäche, sei es aus Überzeugung. Bei Hu gab es kein erkennbares Zögern bei der Ämterübergabe an seinen Nachfolger; anders als Jiang übertrug er auch den Vorsitz der Zentralen Militärkommissionen unverzüglich an Xi.

Auch die persönliche PR des neuen Partei- und Militärchefs änderte sich nahezu sofort. Xi Jinping präsentierte sich schon ab Herbst 2012 als eine Art "Mann des Volkes". Man besuchte das einfache Volk zu Hause, im Wohnzimmer oder im ländlichen Wohnschlafzimmer, herzte Babies und stellte nur Wochen nach Übernahme des obersten Parteiamtes seine persönlichen Lernerfahrungen in der Aufrechterhaltung und Entwicklung des Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten in den Mittelpunkt einer Rede vor neuen und nicht-ständigen Mitgliedern des Zentralkomitees der KP Chinas.

Hu Jintao wäre lieber gestorben, als öffentlich derart geräuschvoll aufzutreten.

Ebenfalls noch bevor Xi auch den Staatsvorsitz übernahm, zeichnete sich eine Arbeitsteilung zwischen ihm und dem zweiten Mann der Partei, Li Keqiang, ab, die Lis selbstbewusster Amtsvorgänger Wen Jiabao niemals akzeptiert hätte: der Parteichef nahm die »prestigefördernden Foto- und Redetermine wahr; Li, der angehende Verwaltungschef, muss sich mit den Schattenseiten des chinesischen Wirtschaftswunders auseinandersetzen.

Hu Jintao war ein Aufsteiger gewesen. Sein Vater galt als kleiner, unbedeutender Geschäftsmann - der Aufmerksamkeit der "Großen Proletarischen Kulturrevolution" entging er darum aber noch lange nicht.

Auch Xi Jinping erlebte die Kulturrevolution als Katastrophe, aber sein Vater wurde nicht als kleiner Mann, sondern als führender Parteikader angegriffen und zeitweilig gestürzt. In einem der vielen von Wikileaks veröffentlichten Korrespondenzen der amerikanischen Diplomatie zitiert ein "cable" der US-Botschaft vom Herbst 2009 einen "gut verbundenen Kontakt der Botschaft", einem "früheren engen Freund" Xis, mit einer Charakterbeschreibung Xis: Xi sei a true "elitist" at heart,

believing that rule by a dedicated and committed Communist Party leadership is the key to enduring social stability and national strength. The most permanent influences shaping Xi's worldview were his "princeling" pedigree and formative years growing up with families of first-generation CCP revolutionaries in Beijing's exclusive residential compounds. Our contact is convinced that Xi has a genuine sense of "entitlement," believing that members of his generation are the "legitimate heirs" to the revolutionary achievements of their parents and therefore "deserve to rule China."

Ausdrücklich wird hinzugefügt, Xi sei nicht korrupt und nicht an Geld interessiert. Allerdings könne ihn die Macht korrumpieren.

Wieviel Bedeutung man solchen "Kabeln" beimessen will, ist Ansichtssache, und hängt sicher auch von der jeweiligen Quelle ab. Gut möglich, dass der Satz über die Korrumpierbarkeit Xis durch Macht dem "früheren engen Freund" aus der Nase gezogen wurde, um den Bericht etwas weniger freundlich abzurunden. Aber Xi dürfte schon aufgrund einer inneren Sicherheit, aufgesogen mit der Ammenmilch, ganz anders auftreten als sein Vorgänger.

Das wird auch medial massiv unterstützt. Als Xi im März 2013 auch den Staatsvorsitz übernahm, beschrieb die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua den neuen Staatschef wie folgt:

In einem blauen Geschäftsanzug mit roter Krawatte, der Mitgliedskarte auf der Brust, stand Xi Jinping, groß von Gestalt, lächelnd, ruhig und selbstbewusst. Seine Stimme klar, frisch und kräftig, offen und ehrlich schauend, entschlossen und unerschütterlich, enthüllte er die Energie, Menschen zu aktivieren.

Da war er also wieder: der Gigant, den es seit Deng Xiaoping nicht gegeben hatte. Mehr noch: ein Gigant von Anfang an, und keiner, der zumindest seine ersten Schritte bescheiden tat.

Anti-Korruptionskampf und "Staatssicherheit"

Fast unverzüglich wandte Xi sich seinen Kernthemen zu: dem "Chinesischen Traum" und der Bekämpfung der Korruption.

Ob ihm allerdings auch durchweg gelungen ist und weiter gelingen wird, was er 2004 - laut Bloomberg - von seinen Parteigenossen verlangt hatte, erscheint angesichts der chinesischen Praxis höchst fraglich: haltet eure Frauen im Zaum, eure Kinder, eure Verwandten, eure Freunde und euer Personal, und gelobt, dass ihr keine Macht auf persönliche Vorteile verwendet. In dieser Hinsicht in China ein Gigant zu sein ist schwieriger, als ein ganzes Land umzukrempeln.

Mit anderen Worten stellt sich die Frage nach Xi Jinpings "Exit-Strategie", wenn er 2022 entsprechend neuerer Tradition seine Partei- und Militärämter und 2023 seine Staatsämter abgeben muss. Oder die Frage danach, ob China in sieben bis acht Jahren überhaupt noch ein Staat ist, in dem er diese Ämter abgeben will bzw. muss, oder ob er schlicht an ihnen festhält. Stimmen Bloombergs im Sommer 2012 veröffentlichten Recherchen, könnten Xis ältere Schwester, ihr Mann und ihre Tochter, vor ähnlichen Problemen stehen wie heute die Clans um den mittlerweile aus der Partei ausgeschlossenen früheren Staatssicherheitschef Zhou Yongkang oder des frühreren stellvertretenden Militärkommissionschefs Guo Boxiong.

Einstweilen aber sind die Antikorruptionskampagnen gegen die "Fliegen" (kleine korrupte Kader) und "Tiger" (Schwergewichter der Partei) Pfeiler der Xi'schen Popularität:

"Tiger Zhou [Yongkang] entkam nicht der rechtmäßigen Bestrafung", prahlten laut BBC chinesische Microblogger:

"Das soll anderen eine Warnung sein" / "Unterstützt die Gerechtigkeit. Jeder sollte die Gesetze befolgen!" / "Wir sind entschlossen, die Korruption zu bekämpfen!"

Wer aber "wir" sind, entscheidet die Parteiführung. Xis "Krieg gegen die Korruption" sei "ein Meisterstück kontrollierter Zerstörung", befand Simon Denyer von der "Washington Post" im Frühjahr 2015:

Mehr als hunderttausend Parteimitglieder sind diszipliniert worden, seit die Kampagne begann, aber durch ein Verfahren, das gänzlich von innerhalb der Partei aus geregelt wird. Die Öffentlichkeit wird schlichtweg nicht dazu eingeladen, dazuzukommen, während Antikorruptionsaktivisten lange Haftstrafen erhalten haben. Es soll keine Massendenunziationen korrupter oder arroganter Beamter geben, weil Xi nur zu gut weiß, wohin dieser Weg führt.

Er muss die Antikorruptionsbewegung vollständig kontrollieren, weil sie Angst haben, die Beteiligung der Öffentlichkeit werde zu einer neuen Kulturrevolution führen und mehr Chaos bringen", sagte der Historiker Zhang Lifan.

Der britische Ökonom Jonathan Fenby sieht die Antikorruptionskampagne aus rechtsstaatlichen und wirtschaftlichen Gründen kritisch. Dass Beijing sich einer "intransparenten" parteiinternen Polizei bediene, verursache einen Angstfaktor unter Kadern, die auch zur Zurückhaltung beim Starten von Projekten geführt habe, die zur Stimulierung der Wirtschaft sinnvoll wären.

Öffentlich weniger wahrgenommen als die Anti-Korruptionskampagnen wird der Ausbau des chinesischen Überwachungsstaates. Rechtsanwälte, die ihre Aufgaben ernster nehmen, als es der Staatssicherheit angemessen erscheint, werden zum Teil ohne öffentliche Mitteilung an die Angehörigen verhaftet. Diese Art der Stille führe zu einem erhöhten Risiko, gefoltert zu werden, so die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) unter Verweis auf einen ausführlicheren HRW-Bericht.

Ebenfalls auf der Negativseite findet sich die Politik gegenüber den "nationalen Minderheiten" oder "Ethnien" Chinas, zu denen Parteiführung und Presse außer "Separatismus", "Terrorismus" und "großartige Entwicklung" nicht viel einfällt. Das hat freilich Tradition in der Volksrepublik, wird aber umso leichter umzusetzen, als der Trend, Terrorismus mit rechtsstaatlich fragwürdigen Methoden zu "bekämpfen", auch vor demokratisch verfassten Staaten nicht haltmacht.

Und über Berührungsängste verfügen auch konservative Politiker in Deutschland längst nicht mehr, wenn es um die Sicherheitskooperation geht:

"China und Bayern werden in Zukunft noch stärker bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und des Drogenhandels zusammenarbeiten", meldete im April 2013 die Website der bayrischen Staatsregierung. "Zusammen" könne man den Gefahren durch international agierende Terroristen [..] besser begegnen", zitierte die Website den Innenminister des Bundeslandes, Joachim Herrmann. Und im Sommer durfte das State Internet Information Office seinen chinesischen Lesern ein Foto seines Amtsleiters Lu Wei mit dem deutschen Innenminister Thomas de Maiziere präsentieren, sozusagen Hand in Hand für ein besseres Internet.

Wer wollte da in China noch seiner Führung widersprechen?

Sicherheitssachzwänge verpflichten Deutschlands Politik zur Kooperation, und gute Geschäfte tun es nicht minder. Vielen Chinesen ist durchaus klar, dass es nicht Respekt für ihr Land ist, das auch im Ausland zu einer zunehmenden Stille von Regimekritikern führt. Aber man gibt sich mitunter auch achselzuckend mit dem zweitbesten Preis zufrieden: Respekt wäre zwar besser, aber wer China fürchtet, kann es dieser Lesart wenigstens nicht mehr angreifen. Nun muss die Propaganda nur noch darauf achten, dass der Durchschnittsbürger sich in der Obhut der Partei nicht zu sicher fühlt und wiederum dadurch auf dumme Ideen kommt.

Zwei Ereignisse und ihre mediale Verarbeitung können für die "Obhut der Partei" als Beispiele dienen. Zum einen der Untergang der "Star of the East / Oriental Star", einem Passagierschiff, das zwischen der ostchinesischen Provinz Jiangsu und der westchinesischen Provinz Sichuan verkehrte. Nach dem Unglück am Abend des 1. Juni

gab der Generalsekretär, Staatsvorsitzende und Vorsitzende der Zentralen Militärkommission Xi Jinping sofort wichtige Instruktionen heraus und wies die Arbeitsgruppe des Staatsrates an, sich vor Ort zu begeben, um die Rettungsarbeiten anzuleiten ...

Und das Explosionsunglück von Tianjin wenige Wochen später geriet der Propaganda geradezu zu einem Stück nation-building-Propaganda. Man lasse sich durch punktuelle, vor allem im Ausland veröffentlichte kritische Haltungen in China zu den Umständen des Unglücks nicht täuschen: die meisten Chinesen nahmen den Jubel über den Aufbau der Zivilgesellschaft per Pressearbeit durchaus positiv auf, oder stellten die Tragödie der Explosionen und der bei der Feuerbekämpfung ums Leben gekommenen Feuerwehrleute an sich in den Vordergrund. Dass das einigen Berichten zufolge vor Ort in Tianjin, wo die Menschen unmittelbar betroffen waren, weniger freundlich aussah, war nicht von zentraler Bedeutung.

Und damit auch potenzielle Intellektuelle begriffen, welcher Wind wehte, begann 2014 eine Kampagne zur ideologischen Richtigstellung an den Universitäten des Landes, mit Zielen wie hier formuliert.

Den Xi-Stil bestimmten 2015 in etwa die gleichen Züge wie zuvor. Zum Beispiel ist Chinas Partei- und Staatschef unaufdringlich in seiner (propagandistischen) Wirkung - hier beschreibt das Parteiorgan "People's Daily" seine Wirkung im Ausland:

Xi Jinping makes use of vivid stories, catches foreign audiences‘ interest, and sparks strong sympathetic responses. At the same time, he unobtrusively and imperceptibly changes listeners‘ stereotypes about China, dispels some existing misunderstandings, showing brilliant diplomatic wisdom.

Das entspricht den Regieanweisungen, die Xi Jinpings Anfang Januar 2012 für die politische Arbeit allgemeinbildender Lehrer und Hochschullehrer gab.

Neuer Blick auf die Kulturrevolution

So gut wie niemand möchte eine neue Kulturrevolution - schon gar nicht die Eliten. Die Begeisterung für revolutionäre Akte ist in China ungefähr so groß wie in Deutschland, also nahe Null. Aber spätestens seit Anfang 2015 wählt die chinesische Führung ambivalentere Töne als zuvor, wenn es um die "Große Proletarische Kulturrevolution" geht. Kurz vor dem chinesischen Neuen Jahr, im Februar, besuchte Xi Jinping in seiner Eigenschaft als "Sohn der gelben Erde" sein "Heimatdorf" - den Ort, an dem er seiner Biografie nach als Teenager und junger Mann sieben Jahre als Landverschickter verbrachte. Vieles spricht dafür, dass er - anders als viele andere junge Menschen - nicht so sehr als stillzulegender Jungrevolutionär zu den Bauern geschickt wurde, sondern damit er nicht von den Jungrevolutionären oder anderen Killern im Schatten des kulturrevolutionären Chaos als "Kadersohn" (fu er dai - der Begriff erneuert sich von Generation zu Generation) umgebracht werde.

Rund vierzig Jahre später, im Februar 2015, befand er sich (vorübergehend) wieder am Ort seiner bäuerlichen "Umerziehung", und selbstverständlich hatte er als junger Mensch den allerbesten Eindruck hinterlassen. Mit Szenen, die man von Besuchen Kim Jong-uns in der nordkoreanischen Pampa kennt (und über die Westmedien sich liebend gerne lustig machen), hieß man Chinas Staats- und Parteichef willkommen:

Xi Jinping ist zurückgekehrt! Der Generalsekretär ist nach Hause gekommen!

Auch während der Besuchszeiten vor dem chinesischen Neujahr funktionierte die bewährte Arbeitsteilung zwischen dem Partei- und Staatschef und seinem Regierungschef. Während Xi Jinping den Ort besuchte, der ihn zu einem richtigen Kerl gemacht hatte, war Li Keqiang für Not, Tod und Elend zuständig: in Pudong, einem Dorf, in dem 43 Prozent der Bevölkerung als arm gelten, überprüfte er die Trinkwasserqualität, die grundlegenden medizinischen Einrichtungen und diskutierte mit aus der Stadt zurückgekehrten arbeitslosen Ex-Studenten das Problem der Arbeitsbeschaffung und der Rückzahlung von Studienzeitkrediten.

Optimismus für schwierige Zeiten

Was in China und in Berichten über China gern euphemistisch als "New Normal" bezeichnet wird, dürfte für viele Arbeitnehmer in China bittere Folgen haben: in der Schwerindustrie bestünden erhebliche Überkapazitäten, so BBC-Wirtschaftsredakteur Robert Peston.

Gleichzeitig stellen sich Fragen nach Chinas Innovationskraft. Von "China can't innovate" bis zu "a new innovation powerhouse" reichen die Einschätzungen.

Innerhalb Chinas dominiert vordergründig die Skepsis - aber das dürfte auf einen traditionellen politischen Hang zum Tiefstapeln hinauslaufen, und der Aufforderung durch den Generalsekretär persönlich, man möge niemals selbstgefällig werden.

Der geneigte China-Leser hat, wenn es um die Ökonomie geht, die Wahl zwischen Hosianna (Martin Jacques, zum Beispiel), alles Scheiße, Tante Li (Gordon Chang, zum Beispiel), und der Mitte (Jonathan Fenby, zum Beispiel). Gewohnheitmäßig entscheiden wir uns für die Mitte. Wenn es um die Vermeidung einer Deflation geht, analysiert Fenby, zitiert vom BBC-Redakteur Martin Webber:

"Ich glaube, sie haben noch genug Munition, um einen wirklichen Kollaps zu vermeiden", sagt [Fenby]. "Aber es wird zweifellos für mindestens die nächsten zwei Jahre eine Abkühlung geben."

Die chinesische Führung unter Präsident Xi Jinping ist "sehr risikoscheu" und "scheint bei vielen Problemen nicht in der Lage zu sein, sie zu bewältigen", sagt er.

Scheu vor Risiken ist allerdings in Chinas Führung nichts neues. Xis Vorgänger Hu Jintao galt geradezu als Gesicht der Risikoscheu.

So ein Gesicht mochte zur Zeit Hu Jintaos mit seinen zweistelligen Wachstumsraten nicht schaden. Aber heute wäre es massenpsychologisches Gift. Und ein solches Gesicht kann man Xi Jinping auch mit dem besten Willen nicht vorwerfen.

Nicht unwahrscheinlich, dass seine Optimismusrolle etwas mit dem Präsidenten zu tun hat, der in Washington amtierte, als Xi Jinping 1985 Iowa besuchte. Es gibt in der Öffentlichkeit keinen schlecht gelaunten oder pessimistischen Xi, und selbst seine Rhetorik erinnert gelegentlich an Ronald Reagan, den großen Kommunikator.

"Öffnet den Himmel für die Jugend", forderte er bei einem Besuch der China Aerospace Science and Technology Corporation, am Weltjugendtag im Mai 2013. Sein Auftritt war die perfekte Mischung aus Mao und Reagan: in space, the possibilities are endless.

Selbst grenzenlose Möglichkeiten werden aus Xi Jinping keinen demokratischen Giganten machen. Aber für eine "Religion des Geldes", wie von Liao Yiwu befürchtet, wird es reichen.

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Don't talk back, Washington Post, 29.12.15
Das glückliche Leben von Muhammad, CRI, 25.12.15
The Xi-Factor, BBC Panorama, 19.10.15

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JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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