Eine Nachricht und ihr Wörterbuch

"Ein-China-Politik" China erhielt in den letzten Tagen wichtigen Besuch aus Taiwan. Vorgeschichte und Inhalte des Besuchs - es ist nicht der erste seiner Art - sind komplex bis umstritten

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Eric Chu, Parteivorsitzender der in Taiwan regierenden Kuomintang (KMT) mit Xi Jinping, dem amtierenden Staatspräsident der Volksrepublik China
Eric Chu, Parteivorsitzender der in Taiwan regierenden Kuomintang (KMT) mit Xi Jinping, dem amtierenden Staatspräsident der Volksrepublik China

Foto: STR/AFP/Getty Images

A. Nachricht

Die große Verjüngung der chinesischen Nation ist die Sache aller, zitierten die "Volkszeitung" und die Nachrichtenagentur "Xinhua" am Wochenbeginn den chinesischen Partei- und Staatschef Xi Jinping:

Nur wenn die Landsleute auf beiden Seiten der Taiwan-Straße und die Chinesen der ganzen Welt sich einig sind, das Denken sich aufeinander zubewegt und nur unter gemeinsamen Anstrengungen wird sich die große Verjüngung der chinesischen Nation schon bald verwirklichen lassen. Wir hoffen aufrichtig, dass die KMT und die KP Chinas das übergreifende nationale Interesse aufrechterhalten, die Aufgabe des von der chinesischen Nation gewollten großen Verjüngung auf sich nehmen, dass sie für das vom auf beiden Seiten der Taiwanstraße gewollte Glück, für die heilige Verantwortung für den Frieden in der Taiwanstraßenregion, die Einigkeit aller Parteien und Fraktionen sowie Menschen aller gesellschaftlicher Schichten große Anstrengungen zur Erschließung einer neuen Zukunft der Beziehungen über die Taiwanstraße unternehmen, dass sie gemeinsam der großen Verjüngung der chinesischen Nation ihre Anstrengungen widmen, und dass sie die chinesische Nation unter den fortgeschrittensten Nationen der Welt hoch aufragen lassen.

Zweimal betonte der chinesische Parteichef den Konsens von 1992. Und nach 1550 Schriftzeichen Xi im Wiedergabeartikel erhielt dann auch der Besucher aus Taiwan, KMT-Parteivorsitzender Eric Chu (Zhu Lilun), noch eine Wiedergabe in 225 Schriftzeichen:

Zhu Lilun sagte, auf der Basis des 1992 unter den Bemühungen der Assoziation für Beziehungen über die Taiwanstraße und der Stiftung für den Austausch über die Taiwanstraße seien von den beiden Seiten viele Gespräche geführt und Konfrontation und Zwist in Zusammenarbeit und Austausch umgewandelt worden. Nach 2005 habe die KMT den Konsens von 1992 in ihr Parteiprogramm übernommen. Auch die Vorschläge von Handels- und Kulturforen beider Seiten der Taiwanstraße seien nach und nach in der Zusammenarbeit und im Austausch verwirklicht worden. Die Taiwanstraße sei Teil der chinesischen Schicksalsgemeinschaft. Die friedliche Entwicklung auf beiden Seiten der Taiwanstraße habe bereits viele Früchte getragen und man hoffe, dass auf der Basis des Konsens von 1992 die beiden Seiten der Taiwanstraße im regionalen Frieden, im Umweltschutz, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit usw. zusammenarbeiten und die Früchte der Beziehung über die Taiwanstraße der Bevölkerungsbasis, den kleinen und mittleren Unternehmen sowie den Jugendorganisationen zugutekommen und somit weiterhin die Entwicklung der friedlichen Beziehungen über die Taiwanstraße fördern werde.

B. Wörterbuch (oder Lexikon)

Das waren die Phrasen. Und nun ein knappes Wörterbuch, soweit das mit den Textlinks noch nicht erledigt ist.

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Taiwan ist die gebräuchliche Bezeichung für die "Republik China auf Taiwan". Bis 1949 hatte die KMT in unterschiedlichem Machtumfang China regiert.

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Eric Chu ist seit Dezember Vorsitzender der KMT (Kuomintang oder Nationalpartei). Er ist damit Nachfolger des taiwanischen Präsidenten Ma Ying-jeou, der zuvor sowohl Staats- als auch Parteichef gewesen war, den Parteiposten aber nach schweren Niederlagen der KMT in den taiwanischen Kommunalwahlen räumte.

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Die friedliche Entwicklung der Beziehungen über die Taiwanstraße folgt als geschichtlicher Abschnitt dem "chinesischen Bürgerkrieg", an dem vor allem die KMT (als Regierungspartei in einem faktischen Einparteiensystem) als auch die KP Chinas (als angehende Regierungspartei in einem faktischen Einparteiensystem) beteiligt waren, und dessen "heiße Phase" 1949 mit der Flucht der KMT-Eliten und nach Taiwan endete. Die sich anschließende, überwiegend "kalte" Phase, die nach allgemeiner Lesart bis heute andauert, sich aber mit Hilfe der friedlichen Entwicklung ab etwa Ende der 1980er jahre zumindest einstweilen entschärft hat, wird häufig als "Taiwan-Konflikt" bezeichnet.

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Der "Taiwan-Konflikt" findet nicht nur zwischen Beijing und Taipei statt, sondern auch innertaiwanisch, zwischen den dorthin geflüchteten KMT-Führern und ihren Anhängern - etwa zwei Millionen Flüchtlinge sollen es damals gewesen sein. Die KMT-Spitze hatte bereits vier Jahre vor ihrer Flucht, im Jahr 1945, nach Ende der japanischen Kolonialphase in Taiwan, einen KMT-Gouverneur in Taipei eingesetzt.

Bis 1991 erhob die KMT in Taipei Anspruch darauf, ganz China zu vertreten - danach gab sie das auf. Beijing wiederum hat seine Gebietsansprüche auf Taiwan nie aufgegeben. Darin liegt die Spannung des Konflikts, der unter der vordergründigen friedlichen Entwicklung - in zivilgesellschaftlichen Formen - immer wieder aufbricht.

Spätestens fünf Jahre vor der Aufgabe des Vertretungsanspruchs für China hatte die KMT eine Demokratisierung der Inselrepublik eingeleitet. Daraus entwickelte sich - im wesentlichen und sehr vereinfacht gesagt - ein Zweiparteiensystem aus KMT und DFP (Demokratische Fortschrittspartei, hervorgegangen aus den Dissidentenbewegungen der 1950er bis 1980er Jahre).

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DFP (Demokratische Fortschrittspartei) oder DPP (Democratic Progressive Party). Im von "Volkszeitung" und "Xinhua" verbreiteten Kommuniqué der Chu-Xi-Gespräche drückt sich mittels des Konsenses von 1992 auch die Existenz der DFP aus: nicht, weil die DFP ein Anhänger dieses Konsenses wäre, sondern weil KMT und KP Chinas offenbar ein gemeinsames Interesse daran haben, eine etwaige DFP-geführte taiwanische Regierung auf die »"Ein-China-Politik" festzulegen. Dass es zu einer DFP-Regierung kommen könnte - es wäre nach einer unglücklichen achtjährigen Präsidentschaft von 2000 bis 2008 ein zweiter Regierungsversuch der Oppositionspartei - befürchten nach den Niederlagen der KMT in den Kommunalwahlen vor einem halben Jahr offenbar sowohl KMT als auch die KP Chinas. Auch Xi Jinpings Ausführungen über die von ihm gewünschte Einigkeit aller Parteien und Fraktionen - in Taiwan, denn in China versteht sich diese "Einigkeit" von selbst - lässt darauf schließen, dass Beijing gegenüber der im April nominierten DFP-Präsidentschaftskandidatin Tsai Ing-wen Gesprächsbereitschaft signalisiert. Dies natürlich im Rahmen der "Ein-China-Politik".

Einige Schritte in diese Richtung hatte Tsai bereits vor dreieinhalb Jahren getan, ebenfalls als Präsidentschaftskandidatin der DFP. Zu "Republik China" vergleiche "Taiwan" (1. Eintrag dieses Wörterbuchs). Die "Freiheitszeitung" zitierte damals aus einer Rede Tsais zum Nationalfeiertag am 10.10.2011:

Sie wies darauf hin, dass Taiwan nicht Teil des chinesischen Territoriums gewesen sei, als die Republik China 1912 gegründet wurde, und dass die KMT, nachdem sie ihr gesamtes Territorium 1949 verloren hatte, Zuflucht auf Taiwan fand. Als das historische Narrativ verlorenging und das Territorium geteilt wurde, ging die Verbindung [der Republik China] zu den Gefühlen der Menschen ebenfalls verloren und erreichte ihre Herzen nur unter Schwierigkeiten.

Das verneint nicht die Bedeutung der Republik China für Taiwan, aber ich möchte die KMT daran erinnern, dass Taiwan seine eigene Geschichte hat, sagte Tsai. [...]

Tsai Ing-wen wies darauf hin, dass trotz der Tatsache, dass die Ankunft der KMT-Regierung auf Taiwan mit einer langen Phase autoritärer Herrschaft begonnen hatte, die große Mehrheit der Taiwaner heute anerkenne, dass "Taiwan einfach die Republik China ist", da die zwei sich zu einem neuen Leben in Taiwan verbunden hätten. Sie betonte, dass der nächste Präsident das Land nicht nach 1912 zurückführen, sondern es in eine demokratische Zukunft führen müsse.

Die anstehenden taiwanischen Präsidentschaftswahlen finden im Januar 2016 statt.

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Parteiführergespräche. Den ersten Besuch eines KMT-Chefs in China gab es 2005. Die KMT- und KPCh-Parteichefs treffen sich in ihrer Eigenschaft als Parteichefs, und nicht als Inhaber staatlicher Ämter.

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"Konsens von 1992". Für KMT und KP Chinas gilt dieser als verpflichtender Verhandlungsstand für beide Seiten. Die DFP legt sich nicht darauf fest und widerspricht der Ansicht, es handle sich um einen Konsens. Oppositionelle Quellen stellen den "Konsens" als eine Erfindung des KMT-Kaders Su Chi dar, die dieser obendrein erst kurz vor dem Beginn der achtjährigen DFP-Regierung im Jahr 2000 als Begriff geprägt habe - also etwa acht Jahre, nachdem KMT und KP Chinas diesen Konsens angeblich erreicht hätten.

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Ein China, zwei Ansichten. "Taiwan Heute", eine Website des taiwanischen Außenministeriums, beschrieb 1997 die Ansichten der KP Chinas und der KMT.

Wie sehr sich die Ansichten beider Seiten trotz aller friedlichen Entwicklung immer noch unterscheiden, macht der Terminkalender des taiwanischen Präsidenten Ma Ying-jeou am heutigen Mittwoch deutlich:

Beim jährlich stattfindenden Han Kuang Manöver wird Präsident Ma Ying-jeou morgen am 6. Mai das Kommando bei der computergestützten Simulation übernehmen.
Bei der fünftägigen, vom 4. bis 8. Mai dauernden Simulation elektronischer Kriegsführung, werden Cyber-Angriffe und Verteidigung und Unterstützung für die vorliegenden Inseln geprobt.
Präsident Ma wird dabei in die Technik einer computergestützten Gegenattacke nach Verlusten durch einen Angriff kommunistischer Militärs eingewiesen,

berichtete das Deutschprogramm des taiwanischen Auslandsradios am Dienstag.

Der Frieden muss bewaffnet sein.

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Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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