Thatcher-Gedenken: gekränkte Marktwirtschaft

"Freedom Fighter" Thatchers Prinzipien würden gerade jetzt gebraucht, findet der britische "Economist".

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Der Economist, ein britisches Blatt, erschien laut Selbstauskunft erstmals im September 1843,

um sich "an einem harten Wettbewerb zu beteiligen, zwischen Intelligenz, die vorwärts drängt und einer unwürdigen, furchtsamen Beschränktheit, die unseren Fortschritt behindert" (to take part in "a severe contest between intelligence, which presses forward, and an unworthy, timid ignorance obstructing our progress.")

Das Motto steht bis heute auf der dritten Seite jeder wöchentlichen Ausgabe.

Ansonsten ist der Economist ein Blatt, das offenbar über kluge Korrespondenten verfügt, die weltweit sehr viel mitbekommen. Die Artikel lesen sich leicht, sind im Allgemeinen mit leicht ironischer Distanz zum Thema geschrieben, und naiver Gläubigkeit eher abgeneigt. Fast immer, aber nicht immer.

Denn fünf Tage vor dem Erscheinungsdatum des dieswöchigen Economist starb Margaret Thatcher, und der Economist ist zutiefst ergriffen.

Freedom Fighter lautet der Titel zu Häupten der Verblichenen, die über den Betrachter hinweg stolz, beseelt und trotzig in die Ferne schaut. Das Titelfoto ist selbstverständlich schwarzweiß.

Jetzt ganz besonders müsse die Welt an Thatchers Prinzipien festhalten, so der Leitartikel. Man möchte Thatcher nicht für gänzlich schuldlos an der jetzigen Krise halten, gibt aber zu bedenken, wie sehr - ohne sie - das Vereinigte Königreich noch immer in der Staatskontrolle stecken würde, wie das Kommando über die Wirtschaft in der Regierung läge und die militanten Gewerkschaften eine Macht im Lande wären.

Freedom fighter - bei diesem Begriff mag den meisten Briten als erstes die Irish Republican Army (IRA) einfallen, und als nächstes vielleicht der Slogan one man's terrorist is someone else's freedom fighter. Die Frage danach, ob es sich um Terror oder Freiheitskampf handle, ist in jedem Fall die Frage danach, ob das Handeln einer umstrittenen Person oder Bewegung legitim (gewesen) sei.

Darum geht es diese Woche im Economist. Darum ist bei diesem Thema auch Pause bei der sonst typischen Ironie oder Leichtigkeit. Und eine Prise Kränkung mag ebenfalls mit in das Design hineinspielen: gelegentliche Freudentänze auf dem virtuellen Grab der verstorbenen Baronin werden möglicherweise nicht einfach als Ausdruck persönlicher Dummheit verbucht, sondern als blasphemische Kränkung. Verbal werden sie im Magazin offenbar gar nicht erst erwähnt.

http://justrecently.files.wordpress.com/2013/04/fdp_roesler.jpgDrei Prozent?! So könnt ihr mit uns nicht umgehen!: Protestpartei-Werbung im Niedersachsen-Wahlkampf, Januar 2013. Der Slogan Haltung zeigen wurde kurz vor dem Wahltag mit einem Zweitstimmenappell überklebt. Es half.

Dabei entsprang die "Party", über die am prominentesten berichtet wurde, noch nicht einmal dem Gefühl verletzter gesellschaftlicher Rechtlichkeit, sondern zumindest vordergründig einer historischen Beleidigung: es ging um Thatchers umstrittene Rolle in der Aufarbeitung des Hillsborough disaster, in dem 96 Liverpooler Fußballfans ihr Leben verloren hatten.

Heute sei es die Nähe der Regierung zu den Banken, die den Thatcherismus so relevant mache, schreibt der Economist. Damals sei es die Nähe der Regierung zur verarbeitenden Industrie gewesen.

Fast möchte man beim Lesen Angst um die Banken bekommen. Von der verarbeitenden Industrie ließ Thatchers "Revolution" nämlich viel zu wenig übrig: selbst aus Sicht der heute amtierenden konservativ-liberalen Cameron-Regierung wären große verarbeitende Industrieunternehmen genau das, was man jetzt gerne hätte.

Aber das ist kein großes Thema in der momentanen öffentlichen Debatte. Man konzentriert sich allseits auf die Vergangenheit. Ding Dong! The Witch is Dead stieg bis Freitag auf Platz 3 in den britischen Charts, und die BBC möchte den Hit nicht völlig unerwähnt und ungespielt lassen. Man entschied sich zu einem schwierigen Kompromiss: fünf Sekunden Wiedergabe müssen genügen.



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