Überforderter Staat: Sicherheit als Leviathan

Elende Größe. Die Möglichkeit einer erdumspannenden Überwachung ist ein - wenn auch vielfach ungewolltes - Produkt des Fortschrtts.

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Joseph Conrad, ein polnischer Autor in England mit einiger seemännischer Erfahrung, schrieb 1912 eine melancholische Abrechnung mit Behörden, kommerziellen Körperschaften, und der Presse, die die "Titanic" ohne Wimperzucken für "unsinkbar" erklärt hatten, nur weil ihre Schotten wasserdicht gewesen seien. Reines Gewicht und Ausdehnung, so Conrad, könnten auch zur Schwäche werden und die beste Seemannschaft überfordern. Kleinere und langsamere Schiffe hätten vermutlich weniger Schaden von der Kollision mit einem Eisberg gehabt als die "Titanic".

Conrad wusste, dass auch die beste Seemannschaft nicht jede Seenot oder jeden Schiffsuntergang verhindern konnte, aber er verließ sich lieber auf das professionelle Training einer Crew als auf technische Gigantomanie.

Auch auf militärischem Gebiet - dem Gebiet der "äußeren Sicherheit" - sind es häufig eher Zivilisten als Militärs, die die Möglichkeiten militärischer oder gewaltsamer "Lösungen" überschätzen. Es war Adenauer - ein Zivilist schlechthin, der dem damaligen U.S.-Präsidenten Kennedy während der Kuba-Krise empfahl, die Insel zu bombardieren und zu besetzen - auch wenn die Vorstellungen des ersten Kanzlers der Bundesrepublik dabei nicht ganz so krude waren, wie Rudolf Augstein sie Jahrzehnte später vielleicht aussehen lassen wollte. Und es waren in den kurzen oder langen Krisen der vergangenen Jahrzehnte Ex-Militärs wie Colin Powell oder Yitzhak Rabin, die zumindest ahnten, dass auch die größte militärische Macht kein Politikersatz ist.

Wenn wir sehr viel Glück haben und uns etwas klüger anstellen als bisher, wird irgendwann das, was heute nicht besprochen werden darf, weil es doch "geheim" ist, zum Garn werden, das die Schlapphüte von gestern öffentlich spinnen. Edward Snowdens Enthüllungen kann man nicht zu diesem Garn zählen, denn die kommen nicht aus dem Ruhestand. Snowden ist auf der Flucht. Erste Anfänge allerdings sind zu erkennen. Im Juni packten drei NSA-Veteranen aus und bestätigten Snowden - mit einem Einwand: die Mitteilungen des Whistleblowers hätten lediglich Hinweischarakter. Die Reichweite der Überwachungsprogramme sei weitaus größer als das, was sich aus Snowdens Hinweisen ablesen lasse.

Bundeskanzlerin Merkel freilich ist es völlig unmöglich, das Überwachungsprogrmm Prism zu analysieren. Und so lange nicht Amerika oder die Zivilgesellschaft anderwo in der Welt das Problem selbst lösen und das ganze Programm zur Debatte gestellt wird, bleibt ihr das auch unmöglich. Vermutlich wird sie ihre Unklarheiten irgendwann mit in ihren Ruhestand nehmen ("Ich warte da lieber"), und auch dann wird sie das womöglich nicht sonderlich beschäftigen. Nicht jeder ist ein Heiner Geißler, und im Ruhestand klüger als in seiner aktiven Zeit.

Und beruhigt darf Merkel auch durchaus sein, denn selbst wenn laut Umfragen nur eine Minderheit der Deutschen Umfragen zufolge mit der Arbeit der Bundesregierung auf diesem Gebiet zufrieden ist: wahlentscheidend wird die Affäre kaum sein. Das stellt sich nicht zuletzt im Umfragenelend der "Piraten" dar. Der Rest ist egal - Wahlergebnisse sind das Opium der etablierten politischen Klasse.

Hier liegt auch das Elend der Zivilgesellschaft: mit welchem Schiff man über den Atlantik oder nach Helgoland fährt, kann man sich selbst aussuchen. Mit welchen Sicherheitsbürokratien - und mit welchen terroristischen Zeitgenossen - man in der Milchstraße unterwegs ist, ist allenfalls bedingt eine Frage der persönlichen Wahl. Aus der Sicht vieler besteht eine solche Wahl überhaupt nicht, und darum macht man sich auch keinen großen Kopf darum - obwohl die Sicherheitsbürokratie, wenn wir sie nicht erfolgreich stoppen, unsere bürgerlichen Freiheiten irgendwann ähnlich nachhaltig fressen wird wie der Ozean die "Titanic".

Aber Politiker die glauben, Geheimorganistationen beherrschen zu können, von denen selbst die sonst so misstrauische Bundeskanzlerin angeblich soviel wie nichts weiß (und augenscheinlich auch gar nicht wissen will), werden früher oder später dastehen wie seinerzeit "Yamsi", der zwar als Passagier den Untergang "seiner" Titanic überlebte, es aber nicht einmal über sich brachte, ihrem Untergang zuzusehen.

Soviel zu den Politikern. Aber was fangen wir als Zivilgesellschaft damit an?

Eine kleine Grübelei, bei der die Frage offenbleibt, wer die "Titanic" ist, wer die Eisscholle, und wer die Passagiere. Selbst bei der Frage wer die Reederei ist und wer der Kapitän, bin ich mir noch nicht ganz sicher.

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Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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