Vor dem 4. Juni 1989 - Das historische Relikt

Zwischenbemerkungen An dieser Stelle unterbreche ich meine Wiedergabe des Berichts Wu Renhuas für einige Zwischenbemerkungen.

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Nachtrag zum vorigen Beitrag

Eddie Cheng, ein Blogger aus Colorado, beschreibt den Wu Renhua von 1989 als einen - jenseits der Bücherwelt - eher schwerfälligen Zeitgenossen. Nachdem Hu Yaobangs Tod inoffiziell bekannt wurde, brach es aus Wu Renhua heraus - in die Stille, die unter den versammelten Akademikern trauerbedingt herrschte -, und kündigte an, er werde einen Kranz zum Platz des Himmlischen Friedens bringen. "Einen großen Kranz!"

"Du?" Chen Xiaoping war überrascht. Sie kannten sich seit einigen Jahren. Als ein gelehrter in der obskuren Welt altertümlicher chinesischer Literatur hatte Wu Renhua einen festen Ruf als Bücherwurm. Trotz seiner eindrucksvollen Körpergröße trat er leise auf und sah nicht so aus, als hätte er sich je mit der gegenwärtigen Welt befasst.

Aber jetzt schien es, als sei "das historische Relikt", als das er bekannt war, bereit für eine Tätigkeit in der realen Welt. Er bestand darauf, dass der Kranz groß sein müsse, um zum Blickfang zu werden.

Er erinnerte sich an das, was er während der 5.-April-Bewegung gesehen hatte, als Einwohner Beijings spontan Blumen und Kränze für den verstorbenen Premier Zhou Enlai zum Platz des Himmlischen Friedens gebracht hatten. Es war ein riesiger Kranz gewesen, angfertigt von Stahlarbeitern, der den größten Eindruck hinterlassen hatte. Nach kurzer Diskussion wurde entschieden, dass man am nächsten Tag einen großen Kranz machen würde.

Chen Xiaoping ging am nächsten Morgen zur Beijing-Universität, um die Stimmung dort einzuschätzen. Wu Renhua und andere verbrachten den ganzen Tag mit der Arbeit an dem Kranz. Es war ein großer: fast sieben Fuß im Durchmesser und mit Papierblumen und Bannern bedeckt. Als Teil chinesischer Tradition trieb Wu eine kleine Flasche Maotai-Schnaps auf, ein Luxusgetränk, und befestigte sie als Opfer an den Verstorbenen am Kranz. Eine Notiz kündigte den Transport des Kranzes zum Platz des Himmlischen Friedens für ein Uhr mittags am nächsten Tag an. Es gab keine Unterschrift.

Cheng merkt an, dass die New York Times am 17. April über den Kranz berichtete - und darüber, dass eine kleine Flasche dort aus Protest gegen Deng Xiaoping zerschlagen worden sei. "Kleine Flasche" sei im Chinesischen gleichlautend mit "Xiaoping". Dies sei zwar, so Cheng, im späteren Verlauf der Proteste ein Ausdrucksmittel geworden, habe aber nicht in Wu Renhuas Absicht gelegen.

Wu Renhua und die Auslandsdissidenten

Wer zu Ereignissen in China genaue Daten sucht, wendet sich vielleicht instinktiv zuerst an behördliche Quellen. Wer das tut, muss sich allerdings darüber im Klaren sein, dass die Behörden parteilich sind - sie sind die Partei. Und die Studentenbewegung von 1989 findet in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht statt.

Diese Art des Diskurses entspricht einer älteren Tradition als der "kommunistischen". Zwischentöne waren auch der kaiserlichen Geschichtsschreibung eher fremd. Ging es um die Dynastie, die zugunsten der jeweils an der Macht befindlichen gestürzt worden war, wurde sie in den schwärzesten Farben gemalt - vor denen die Tugenden der aktuellen Machthaber dann umso heller glänzten.

Diese Form ist auch Gegenbewegungen zur KP Chinas nicht fremd. Insbesondere die Falun-Gong-Bewegung folgt dem gleichen Schema von Gut und Böse, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Sie sieht sich als die eigentliche "Bewahrerin" chinesischer Kultur und kommt nicht weniger spießig und selbstgefällig daher als das KP-Kulturfunktionariat.

Die Art, in der die chinesischen Behörden in den späten 1990ern auf Falun Gong reagierten, lässt vermuten, dass sie diese Bewegung sehr viel mehr fürchten als die - jedenfalls heute - die Aktivisten der 1989er Studentenbewegung, und mehr als eher weltlich geprägte Dissidenten in China.

Viele Dissidenten - auch solche, die längst außerhalb Chinas leben - halten sich mit persönlichen Daten sehr zurück. Das belastet zwangsläufig ihre Glaubwürdigkeit, macht ihre Seiten der Story aber nicht weniger interessant. Ein wichtiger Grund zur Zurückhaltung ist für sie sicherlich auch die Tatsache, dass viele ihrer Verwandten nach wie vor in China leben. Wu Renhuas Geschichte und Verbindung mit China ist allerdings relativ gut rückverfolgbar. Man darf ihn wohl zu den öffentlichen Intellektuellen der Dissidenten zählen.

Wie überprüft man die Glaubwürdigkeit einer Erzählung? Eine Möglichkeit sind üblicherweise Forschung und Lehre. Allerdings ist die Sinologie in Deutschland überwiegend nur am Rande an den Dissidenten interessiert - und nicht selten setzt es auch Bashing für die Dissidenten, zum Beispiel vom Bonner Sinologen Wolfgang Kubin. Vermutlich könnte auch der Journalismus manches - sicher nicht alles - zu einer umfassenderen China-Darstellung beitragen. Das setzt allerdings ein öffentliches Interesse voraus, das möglicherweise gar nicht existiert.

Meine Beitragsreihe basiert - wenn nicht anders gekennzeichnet - auf der Dokumentation Wu Renhuas. Wu bezieht sich zum Teil auf das, was er 1989 selbst sah, und zum Teil auf allgemein zugängliche Dokumente. Konkrete Quellen werden nur sporadisch angegeben, und über die Authenzität mancher der von ihm verwendeten Dokumente lässt sich streiten. Wo er Quellen nennt und ich sie für bestreitbar halte, gehe ich näher darauf ein.

Allerdings wird Wus Darstellung von anderen Dissidenten - zumindest soweit mir bekannt - nicht öffentlich angefochten. Das versteht sich nicht von selbst; die Dissidenten sind häufig untereinander zerstritten. Das gilt sowohl für Dissidenten im Ausland untereinander, als auch für das Verhältnis von Auslandsdissidenten und Inlandsdissidenten. Catherine Yeung, australische Bloggerin mit Hong Konger Vorfahren, drückte es im Oktober 2011 so aus:

Viele der Überseedissidenten sind schon zu lange außerhalb Chinas und ihre Ansichten zu aktuellen Angelegenheiten sind nicht mehr aktuell. Entsprechend finden Aktivisten in der VR China es schwer, sie ernstzunehmen. Für viele Netizens in China ist der Titel "Demokratiekämpfer" eine abfällige Bezeichnung.

Fortsetzung hier »

Dieser Beitrag ist der dritte von mehreren über die chinesische Demokratiebewegung im Jahr 1989. Weitere Details unter "Info" im vorigen Teil.

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Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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