Vor der Wahl: eine Krise zweier Systeme

China und Griechenland Wer entscheidet? Was eigentlich jeder selbst beurteilen müsste, erledigt die Massenbeeinflussung. Aber Verbesserungsvorschläge werden angeboten - und ausprobiert

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Mein rechter, rechter Platz ist frei
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Bild: LOUISA GOULIAMAKI/AFP/Getty Images

Nun soll also erneut das Volk entscheiden, wenige Wochen nach dem Referendum. Griechenlands Premierminister Alexis Tsipras erklärt seinen Rücktritt, in der Hoffnung, in möglichst baldigen Parlamentswahlen eine eigene Mehrheit zu gewinnen: im Idealfall eine absolute Mehrheit für den ihn tragenden Teil der Syriza-Partei, und zur Not in einer Koalitionsregierung. In jedem Falle aber wird er, eine absolute oder relative Mehrheit vorausgesetzt, im nächsten Parlament ohne den linken Flügel der bisherigen Syriza-Partei regieren.

Noch sei Tsipras populär, so die britische Nachrichtenagentur Reuters, und in vorgezogenen Neuwahlen habe er gute Chancen auf einen Wahlsieg, um danach die härtesten Punkte des neuesten "Rettungsprogramms" durchzusetzen: weitere Einschnitte bei den Renten, weitere Mehrwertsteuererhöhungen und eine Solidaritäts-Einkommenssteuer.

Eigentlich hört sich das nach klaren - und abschreckenden - Programmpunkten an. Aber so funktioniert das Leitsystem der öffentlichen Meinung nicht. Die Lebensverhältnisse, die sich aus der griechischen und der EU-Politik ergeben, sind wie kaltes Wasser: man fühlt es erst richtig, wenn man hineingesprungen ist oder hineingeworfen wurde, und solchen Fällen ist das Gefühl ein unverzichtbares Kriterium, um eine Frage richtig zu beantworten.

Darum entspricht Tsipras' Ankündigung, er fühle die tiefe ethische und politische Pflicht, alles, was er getan habe - Erfolge und Misserfolge - den Wählerinnen und Wählern zur Beurteilung vorzulegen, zwar den besten Traditionen der repräsentativen Demokratie. Sie ist aber außerdem Teil ungelöster geschichtlicher Probleme, die spätestens mit den Parlamentswahlen 1974 begannen; vielleicht aber auch viel früher, und die nicht so gut funktionieren, wie sie auf den ersten Blick vielleicht aussehen.

Es gibt dabei unter anderem den Aspekt der politischen Willensbildung, den alle Gesellschaften, über Griechenland hinaus, gemeinsam haben. Es gibt dabei keinen Grund zu glauben, deutsche Wähler seien urteilsfähiger als zum Beispiel griechische oder italienische Wähler. Dass Deutschland zur Zeit "besser" oder jedenfalls wirtschaftlich stabiler dasteht als viele andere europäische Länder, ist ein Ergebnis sehr vieler unterschiedlicher Faktoren, und vielleicht auch manch guter Entscheidungen in den Wahlkabinen, aber der status quo ist kein Ergebnis informierterer oder klügerer Entscheidungen deutscher Wähler.

Nicht nur die repräsentativen Demokratien stehen vor dem Problem, dass diejenigen, die direkt oder indirekt die Rolle des "Souveräns" einnehmen sollen, mit der Beurteilung der ihnen vorgelegten Fragen überfordert sind. Diktatoren, die ihr Land wirtschaftlich und sozial voranbringen wollen (nach welchen Maßstäben dieses "voran" zu beurteilen sein soll, überlassen wir der Konvention), sind ebenfalls zunehmend überfordert. China zum Beispiel gilt als low-trust society. Das Vertrauen zwischen Chinesen, die einander nicht kennen, ist sehr viel geringer als zwischen Mitteleuroäern in vergeleichbaren konkreten Situationen. Low trust herrscht unter den Regierten, aber auch den Regierern. Umso größer ist die Herausforderung für erstere wie letztere, optimale, belastbare Seilschaften untereinander zu bilden. Für die Regierenden oder politischen und wirtschaftlichen "Entscheider" gilt es außerdem, sich aus der auch in China reichhaltigen technischen und politischen Expertise genau die Experten herauszusuchen, denen man vertrauen kann. Denn Vertrauen ist immer personengebunden. Erst wenn die Frage zur Loyalität des Beraters positiv beantwortet ist, stellt sich die Frage nach der Integrität seiner Argumente.

54 Experten sollen zu den diesjährigen spätsommerlichen informellen Weichenstellungsberatungen der chinesischen Führung eingeladen worden sein. Je entwickelter das Land, desto komplexer die von der politischen Führung zu treffenden Entscheidungen. Auch in China wird bei gleichbleibender Entwicklung zunehmend gelten, dass man den Experten vertrauen müsse.

Für eine Partei wie die KP Chinas, die ein Monopol auf die politische Macht ausübt, sind das nicht nur ärgerliche Zumutungen, sondern geradezu entnervende Sicherheitsrisiken.

Bei allen Unterschieden zwischen den Systemen gibt es allerdings gelegentlich Lösungsansätze, die Vertreter beider Systeme, demokratischer und diktatorischer, interessieren. Neben dem Leitsystem für die öffentliche Meinung, das sich als mehr oder weniger manipulatives Konzept nicht ausschließlich dem "Westen" oder dem "Osten" zurechnen lässt, ergab sich auch ein idealistischerer Ansatz, der aus Texas nach Griechenland "zurückgebracht" und vor rund zehn Jahren auch in China örtlich getestet wurde: James Fishkins Idee der deliberativen Demokratie.

Ein mutiges Verfahren wäre es sicherlich, das Ergebnis solcher Erörterungen an der Basis automatisch zu Referenden zu machen, deren Ergebnisse verbindlich wären. Das athenische Demokratiesystem vom 5. bis zum 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, sei eines der am wenigsten delegierenden Systeme aller Zeiten gewesen, so der Journalist John Lloyd vor neun Jahren in der "Financial Times".

Bei allen Macken habe dieses System es immerhin geschafft, auch arme oder zynische Zeitgenossen zu motivieren. They talked all the time for a year, zitierte die "Financial Times" Fishkin. They were living together.

And never wasch over.

» Diskussionshinweis, 14.08.15

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