Warum Merkel so wichtig ist

Politik und Symbole ---

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Die Kims im Theater

Ich finde das Zitat nicht wieder, und lege für seine Authenzität nicht die Hand ins Feuer. Sinngemäß ging es so: immer mehr unserer Importe kommen aus fremden Ländern. Zugeschrieben wurde es (zeitnah) George W. Bush, im Jahr 2000, als er und der seinerzeitige demokratische Vizepräsident Albert Gore Clinton im Weißen Haus beerben wollten.

Bushs Erfolgskonzept schien darin zu bestehen, dass er sich dümmer stellte, als er war, und das Konzept ging auf, wenn auch nur knapp.

Ich fragte mich, ob Vertrauen überhaupt eine Voraussetzung für einen Wähler sei, um für einen Kandidaten zu stimmen. Ein paar Auskünfte von amerikanischen Wählern ließen mich vermuten, dass es nicht so sehr um Vertrauen ging, sondern vor allem um Sympathie, denn als Arzt, Anlageberater oder Apotheker hätte offenbar keiner der mir bekannten Bush-Wähler den Kandidaten ihrer Wahl akzeptiert. Wahlen - ob nun Präsidentschafts- oder Kongresswahlen - wurden demnach als eine für das eigene Leben vergleichsweise unverbindliche Angelegenheit angesehen. Und das sahen diejenigen so, die sich überhaupt für Politik interessierten.

Ein wichtiger und immer wieder genannter Grund für Bushs komplizierten "Wahlsieg" soll die "Arroganz" seines Konkurrenten Gore gewesen sein. Bush hingegen wirkte dufte und sympathisch, wenn auch nicht sehr ausgeschlafen.

Vielleicht lag ich trotzdem falsch mit meiner Vermutung, Politik sei dem amerikanischen Bevölkerungsanteil, der zur Wahl ging (oder dem, der nicht zur Wahl ging), nicht besonders wichtig. Vielleicht gab es für sie einfach keine verlässlichen Informationen, aufgrund deren sie entsprechend informiertere Entscheidungen hätten treffen können, und das nicht, weil es solche Informationen überhaupt nicht gegeben hätte, sondern weil hier mediale Gewohnheiten und eine unverschuldet begrenzte Aufnahmefähigkeit oder Verarbeitungsfähigkeit für Informationen den Ausschlag gaben. Wenn das Fernsehen 2013 über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg die bevorzugte Nachrichtenquelle der meisten Amerikaner war, wird das dreizehn Jahre vorher erst recht gegolten haben - und auch Printmedien beschäftigten sich eher mit Trivialwissen über die Präsidentschafts- oder hauptsächlichen Kongresskandidaten, inklusive der Art und Weise, wie sie ihr Familienleben darstellten.

Der Propagandakritiker Jacques Ellul befand in den 1960ern,

the leader or expert who enjoys authority and prestige among the mass is the man who best speaks for that mass. The ordinary man must see himself reflected in his leader. The leader must be a sublimation of the "ordinary man." He must not seem to be of a different quality. The ordinary man mjust not feel that the leader transcends him. This quality of the average in the Hero (actor, dictator, sports champion) has been clearly demonstrated in the history of the past thirty years. It is what E. Morin emphasizes in his study of the deification of film stars.

Ellul stellt Propaganda - neben einer Vielzahl anderer Funktionen - als einen Ersatz für Informationen dar. Zwar sei der Inhalt alltäglicher Propaganda rational und sachbezogen. Aber schon als Verbraucher sei der Mensch im Normalfall überfordert: ob nun als Leser einer technikbetonten Werbeanzeige für ein Auto oder ein Fernsehgerät, oder als Zeitgenosse:

After having read an article on wheat in the United States or on steel in the Soviet Union, does the reader remember the figures and statistics, has he understood the economic mechanisms, has he absorbed the line of reasoning? If he is not an economist by profession, he will retain an over-all impression, a general conviction that "these Americans (or Russians) are amazing. ... They have methods. ... Progress is important after all," and so on. Similarly, emerging from the showing of a film such as Algérie francaise, he forgets all the figures and logical proofs and retains only a feeling of rightful pride in the accomplishments of France in Algeria. Thereafter, what remains with the individual affected by this propaganda is a perfectly irrational picture, a purely emotional feeling, a myth. The facts, the data, the reasoning - all are forgotten, and only the impression remains. And this is indeed what the propagandist ultimately seeks, for the individual will never begin to act on the basis of facts, or engage in purely rational behavior. What makes him act is the emotional pressure, the vision of a future, the myth.

Ein Übermaß an Informationen kläre nicht auf, so Ellul, sondern "ertränke" seinen Empfänger. Je detaillierter das ihm vermittelte Bild, desto summarischer und vereinfachender falle das Urteil des Informationsempfängers aus.

Damit ist längst nicht alles erwähnt, was Ellul als Voraussetzung für wirkungsvolle Propaganda nennt. Aber eine Massengesellschaft vorausgesetzt, in der sowohl jeder "on his own" ist, als auch Teil einer als real empfundenen "Gemeinschaft", wird es vielleicht nachvollziehbarer, wie Menschen dazu kommen, sich mit Stars einer Fernsehserie, Talkshowteilnehmern oder auch Spitzenpolitikern (die eher selten in Talkshows auftreten, dafür aber in ausführlichen und trotzdem eher trivialen Einzelinterviews) mehr oder weniger stark zu identifizieren.

Und ganz besonders mit Figuren wie Angela Merkel - oder Frank Walter Steinmeier, dem außenpolitischen Vertreter der Deutschen. Der könnte auch Derrick.

Merkel, so FC-Blogger JW, »verkörpere den Traum des Stillstandes, während die Welt sich rasend schnell verändere.

Wenn ich mir diesen Satz für meine Wahrnehmung umbaue, lautet er so: Merkel verkörpert den Traum einer unterkomplexen Welt.

Das gilt zwar für die politische Klasse insgesamt, aber Merkels Erfolg dabei ist überdurchschnittlich.

Sie verwirrt uns nicht mit Tatsachen, und schon gar nicht mit Details. Und wenn sie beim Produzieren trivialer Aussagen dann doch einmal in eine falsche Satzschublade greift (»marktkonforme parlamentarische Mitbestimmung) oder wie bei ihrer missglückten »Verteidigung eines früheren Verteidigungsministers, eilt ihr entweder der Redakteur einer konservativen Tageszeitung zu Hilfe, oder man vergisst die unglückliche Chose ganz schnell wieder. Denn ebenfalls zur Propaganda gehört das Vergessenkönnen. Konsistenz, so Ellul, sei keineswegs eine notwendige Eigenschaft von Propaganda:

It is always surprising that the content of propaganda can be so inconsistent that it can approve today what it condemned yesterday. Antonio Miotto considers this changeability of propaganda an indication of its nature. Actually it is only an indication of the grip it exerts, of the reality of its erffects. We must not think that a man ceases to follow the line when there is a sharp turn. He continues to follow it because he is caught up in the system. Of course, he notices the change that has taken place, and he is surprised. He may even be tempted to resist - as the Communists were at the time of the German-Soviet pact. But will he then engange in a sustained effort to resist propaganda? Will he disavow his past actions? Willhe break with the environment in which his propaganda is active? Will he stop reading a particular newspaper? Such breaks are too painful; faced with them, the individual, feeling that change in line is not an attack on his real self, prefers to retain his habits.

Und dann kommt der entscheidende Punkt:

Immediately thereafter he will hear the new truth reassessed a hundred times, he will find it explained and proved, and he does not have the strength to fight against it each day on the basis of yesterday's truth. He does not even become fully involved in this battle. Propaganda continues its assault without an instant's respite; his resistance is fragmentary and sporadic. He is caught up in professional tasks and personal preoccupations, and each time he emerges from them he hears and sees the new truth proclaimed. The staeadiness of the propaganda prevails over his sporadic attention and makes him follow all the turns from the time he has begun to eat of this bread.

Es ist mehr los als wirklich, ist »dieser Artikel überschrieben. Und weiter:

Man weiß nicht mehr, was real ist und was nicht. Ähnliches gilt für die Stimmungen, die Konjunktur haben. Sie selbst reduzieren sich zunehmend auf Erregungen, egal nun, ob diese schnell verpuffen oder zu hartnäckigen Vorurteilen werden.

Dass das Interesse an Politik abnehme, sei womöglich weniger schädlich als sich unverdrossen an sie zu klammern und die Augen zu verschließen vor ihrer Impotenz, vermutet der Autor, Franz Schandl.

Das nachlassende Interesse an der Art, wie öffentliche Angelegenheiten verhandelt werden, kann einer immer größere Teile der Öffentlichkeit erreichenden Desillusionierung liegen - an Realitäten, die sich nicht mehr aufhübschen oder gar positiv umdeuten lassen. Es kann aber auch daran liegen, dass es immer weniger Propagandisten gibt, die ihr Handwerk wirklich beherrschen. Oder an beidem.

Was aber viele Griechen in der größten Not vielleicht ansatzweise verstanden haben - trotz aller Propaganda zugunsten des Status Quo -, wollen die meisten Deutschen bisher nicht wahrhaben: dass nämlich Wählen wirkt. Allerdings am ehesten dann, wenn man sich vorher über seine eigene Interessenlage klar wird. Sollte der Wahltag einmal auf den Muttertag fallen, so ist das Zufall und bedeutet nicht, dass man unbedingt die CDU wählen muss.

Damit ist allerdings nicht die Frage beantwortet, wie man mit den Ursachen umgehen soll, die hinter dem Symptom Angela Merkel liegen.

Viele Gegner des Status Quo neigen ihrerseits zur Propaganda. Da geht es dann um Glaubwürdigkeit. Oder um Glaubwürdigkeit. Oder um Glaubwürdigkeit.

Richtig ist: diese Art Propaganda würde funktionieren, wenn sie beständig wäre. Das kann sie aber nicht sein, weil ihre Unterstützer in der Minderheit sind. Was nicht mindestens einmal täglich zur Hauptsendezeit im Fernsehen gesagt und - vor allem - wiederholt wird, hat keine Chance, im normalbürgerlichen Bewusstsein hängenzubleiben.

Wäre die Welt besser, wenn die Propaganda gegen das Establishment effizienter würde? Man darf es getrost bezweifeln. Wenn die Welt beschissen werden möchte, wird sie es auch. Zur Abwechslung dann vielleicht von links, und mit besseren Absichten. Aber das stinkt auf die Dauer auch nicht schöner.

Dass Jacques Ellul letzthin häufiger in meinen Posts auftaucht, hat mit Linkspazi zu tun - der Lesetipp kam von ihm.

Jacques Ellul: Propaganda, the Formation of Men's Attitudes, Paris 1962, 2008, New York 1965, Zitate im Post S. 86 f., 96 f.

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Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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