Warum sich "nichts ändert"

German angst. Die Eliten trauen "den Menschen im Lande" offenbar gerade soweit, dass sie sich das Recht von Bundeswehreinsätzen nach innen vorbehalten. Woran liegt das?

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Schon die Überschrift ist eine grobe Vereinfachung, denn die einzige Konstante ist der Wandel, haben kluge Leute so oder ähnlich bestimmt schon mehr als einmal gesagt. Vereinfachend wird es in diesem Beitrag auch weitergehen.

Von Chaostheorien bis zu klar aufgestellten (mehr oder weniger überprüfbaren) Analysen wird diese sich ständig wandelnde Wirklichkeit untersucht - von Soziologen, Ökonomen und anderen Wissenschaftlern. Und - weniger wissenschaftlich, aber umso öfter - von Publizisten.

Wer politisch zu denken versucht, schließt sich der einen oder anderen Theorie an, oder bastelt sich aus ihnen eine eigene Vorstellung.

So stelle ich mir diese Verläufe vor.

Und natürlich habe ich auch eine selbstgebastelte Vorstellung davon, warum sich zwar alles ändert, aber so selten nach Wunsch. Warum, zum Beispiel, bleibt die Gesellschaft ungerecht?

Weil individuelle Vorstellungen davon, was gerecht wäre, von den jeweils eigenen Lebensumständen abhängen - und von dem, was ein Mensch für recht oder richtig hält.

Ist die Gesellschaft - politisch "denkend" oder auch nicht - damit dumm?

Das wird oft behauptet. Aber ich glaube das je weniger, desto älter ich werde. Mir liegt nicht daran, die Massen-"Intelligenz" zu überhöhen, aber ich habe den Eindruck, sie wird von Möchtegern-Erlösern gerne heruntergespielt, wenn sie das Vorhandensein solcher Intelligenz nicht überhaupt bestreiten.

Der "kleine Mann" ahnt: wer den Ball anstößt, weiß noch lange nicht, in welche Richtung er weitergespielt wird. Interaktion führt zu unvorhersehbaren Ergebnissen. Je genauer der Plan des Revolutionärs oder auch Reformers, desto skeptischer wird der Blick darauf - hinsichtlich seiner Realisierbarkeit. Und wenn es von den Veränderern heißt: "Hauptsache anders als jetzt", beginnt das Kopfschütteln - aus Zweifel an der Gewissenhaftigkeit des Vorhabens.

Für gelungene Veränderungen - und vor allem für Revolutionen - gilt: nach den Mutigen kommen die Opportunisten. Im schlimmsten Fall wird der Mutige zum nützlichen Idioten der Opportunisten. Also treten zuerst die Christen auf, die sich an die Löwen verfüttern lassen, und dann die Katholische Kirche. Erst die Bürgerrechtler, dann die Währungsunion.

Bevor sich eine Mehrheit im Land auf eine solche - neue - Reise einließe, dürfte sie nicht mehr viel zu verlieren haben. Diese Voraussetzung trifft aber offensichtlich im Status Quo nicht zu. Es gäbe viel zu verlieren. Überzeugen lässt man sich allenfalls von vielen, womöglich kleinen, Schritten.

Und trotzdem ist es anscheinend keineswegs so, dass die bundesdeutschen Eliten keine Angst vor Aufständen hätten. Und es ist auch nicht so, als signalisierten sie keine solchen Ängste. Das Karlsruher Urteil im vorigen Sommer, das Bundeswehreinsätze im Innern zulässt, ist ein solches Signal, zumindest aber ein Indiz für solche Ängste. Heribert Prantl, ein zutiefst liberaler, sicher aber nicht revolutionsseliger Journalist, schrieb damals über die höchstrichterliche Einsatzerlaubnis:

Gewiss: nicht zum Einsatz bei Großdemonstrationen. Man kennt solche Gewissheiten. Das Gewisse ist einige Zeit später schon nicht mehr gewiss.

Warum die Angst derer von oben, die dem Rechtsstaat seine Gewissheiten nehmen, um ihre eigenen Gewissheiten zu steigern?

Vielleicht, weil zukünftige Zumutungen an die schweigende Mehrheit die bisherigen Zumutungen bei weiten übertreffen und dann auch Gegenbewegungen einer Mehrheit provozieren könnten. Oder weil weltwirtschaftliche und weltpolitische Ereignisse schwer vorhersehbar sind. Von der Ukraine bis nach Thailand entsteht eine politische Kultur, in der neben Wahlen auch Demonstrationen über das Schicksal von Regierungen entscheiden.

Die politische Klasse erweitert ihre Optionen. Genauer: sie lässt sich Optionen legalisieren oder teillegalisieren, von denen vor zehn Jahren viele Menschen nicht für möglich gehalten hätten, dass es diese in der Bundesrepublik einmal geben würde.

Und auch dies gehört zum Denken der Mehrheit: dass solche Optionen geschaffen werden, verdrängt oder vergisst man gern.

Wat wellste maache.

Das ist auch ein Grundgesetz. Angeblich sogar ein besonders sympathisches.

Trotzdem gibt es nicht nur unter Minderheiten, sondern auch unter Mehrheiten Ahnungen oder Befürchtungen, man würde systemisch oder jedenfalls auf irgendeine Art dauerhaft belogen und manipuliert. Man hat aber kaum die Zeit, Energie oder Methodik, solchen Ahnungen nachzugehen - ihnen womöglich auch auf den Grund zu gehen.

In dieser Verweigerung oder in solchen, so wahrgenommenen Möglichkeiten, liegt keine gestaltende Kraft. Auch das private Glück kann seine positive Energie verlieren, wenn es überbeansprucht wird: wenn neben dem Privatleben kein öffentliches Engagement steht.

Zwischen diesen Polen aus Ahnung und Verweigerung lässt es sich lange schwanken oder schwingen, während sich die Welt verändert.

Es sei denn, konkrete Ereignisse stellen Menschen vor eine mehr oder weniger bewusste Wahl. Niall Ferguson, ein britischer Wirtschaftshistoriker, beschrieb das aus seiner ökonomischen Perspektive vor knapp zwei Jahren wie folgt:

Der peruanische Ökonom Hernando de Soto argumentiert ebenfalls seit Jahren, dass es auf Institutionen ankommt.

Seit de Soto The Mystery of Capital veröffentlichte, haben Revolutionen wie jene in Tunesien und Ägypten überzeugende Indizien geliefert, die seine Betrachtungsweise unterstützen. Er sieht den "Arabischen Frühling" als eine Revolte frustrierter, verhinderter Unternehmer gegen korrupte, rentenökonomische*) Regime, die es auf ihre Anstrengungen zur Kapitalakkumulation abgesehen hätten.

Das Paradebeispiel ist die Geschichte des 26jährigen Tarek Mohamed Bouazizi, der sich im vorigen Dezember vor den Amtsräumen des Gouverneurs in der Stadt Sidi Bouzid selbst verbrannte. Bouazizi tötete sich genau eine Stunde nachdem eine Polizistin, unterstützt von zwei städtischen Amtsträgern, seine zwei Kisten Birnen, eine Kiste Bananen, drei Kisten Äpfel und eine gebraucht gekaufte elektronische Waage im Wert von etwa 180 Dollars konfisziert hatte. Das war sein einziges Kapital. Seine Selbstverbrennung entzündete eine Revolution, wobei man abwarten muss, wie glorreich sie wird. Das wird davon abhängen, wie weit neue konstitutionelle Vereinbarungen in Ländern wie Tunesien und Ägypten die Veränderung von einem extraktiven zu einem inklusiven Staat zustandebringen; von willkürlicher Macht rentenökonomischer Eliten zum Rechtsstaat für alle.

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*) Nur eine von mehreren möglichen Übersetzungen, und nicht unbedingt die zutreffende. Englisch: rent-seeking regimes. Auch die im obigen Zitat eingefügten Links führen nicht notwendigerweise zu Artikeln, die Fergusons Ansichten entsprechen, sondern lediglich meinen eigenen Vorstellungen davon ---JR

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Funktionierende Institutionen und Rechtsstaatlichkeit sind für Ferguson Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gesellschaft - ein für ihn weit gefasster Begriff, der zum Beispiel auch einen gelungenen Generationenvertrag umfassen würde.

Es wäre unzulässig, Fergusons Tunesien-Beispiel daraufhin zu untersuchen, wie er Deutschland sieht. Das war im verlinkten Vortrag nicht sein wesentlicher Gegenstand.

Interessant erscheint mir vor allem, wie eine - in diesem Fall tunesische - Revolution, nachdem sie einmal begonnen hat, wie selbstverständlich auf die Gründe hin untersucht wird, warum sie mehr oder weniger unvermeidlich war.

Das weiß der Mensch fast immer erst im Nachhinein - zumindest glaubt er es dann zu wissen.

Weil er es nicht vorher weiß, haben diejenigen Angst, die etwas zu verlieren haben. Geben sie dieser Angst allerdings hemmungslos nach, leidet darunter der Rechtsstaat. Und früher oder später werden die Ängste mit den aus ihnen entstehenden Rechtsverletzungen zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen.

Dagegen ist auch ein OECD-Land nicht immun.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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