Wenn Sicherheit zur "ersten Freiheit" wird

Terrorismusbekämpfung "... to defend the constitution ... against all enemies, foreign and domestic" - so macht man sich bei der Macht unbeliebt. Dabei ist das eine ganz amtliche Eidesformel.

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Michael Morell hatte schlechte Nachrichten für die Leser des "Politico": in einer durch Edward Snowdens Enthüllungen "abgestraften" Umgebung, in der die Informationsgewinnung teilweise stillgelegt worden sei, könne der IS problemlos agieren. so der frühere stellvertretende CIA-Direktor im Interview. Mehr noch: mit dem, was Snowden der Öffentlichkeit an Wissen zur Verfügung stellte, habe der IS gelernt, wie man vom Radar der Telekommunikationsüberwachung verschwinden könne. Schlimmer noch fand Morell allerdings, dass Snowdens Enthüllungen eine "Wahrnehmung" erzeugten, nach der die Dienste die Privatsphäre der Menschen erheblich gefährdet hätten. Und auch der medialen Berichterstattung gab Morell daran eine Mitschuld.

Dass die Telekommunikatonsüberwachung nun eingeschränkt worden sei, oder dass IT-Unternehmen Verschlüsselungen anböten: das alles falle aus seiner Sicht auf Snowden zurück. Er sei sich ziemlich sicher, es werde sich herausstellen, dass "these guys" - die Terroristen in Paris - bei ihrer Kommunikation mit den IS-Kommandierenden in Irak und Syrien mit kommerzieller Verschlüsselung gearbeitet hätten, für die die Anbieter nicht einmal einen Schlüssel anbieten könnten, wenn die Regierung einen Durchsuchungsbefehl ausstelle.

Bei alldem konnte Morell allerdings die Frage, ob die Planungen des IS zum Massenmord in Paris ohne Snowdens Enthüllungen von US-Diensten rechtzeitig entdeckt worden wären, nicht beantworten - aber "wir hätten sicher eine reelle Chance gehabt".

Nur mit einer solchen, nicht maßlos selbstgewissen Art der Antwort, wahrte Morell seine Chance, auf die Öffentlichkeit - in diesem Fall die Leser des Interviews - glaubwürdig zu wirken. Und es geht ja in der Terror- und "Sicherheits"-Debatte nicht um Argumente; es geht fast ausschließlich um Glaubwürdigkeit, oder um Glauben ohne Wissen. Dieser Logik nach muss der Staat alles wissen, und der Bürger darf nahezu nichts wissen. Kurz: die Sicherheitsbürokratie, im Interview vertreten von Michael Morell, verlangt volles Vertrauen statt Kontrolle.

In einem Interview mit dem BBC-Korrespondenten Peter Taylor*) als Podcast veröffentlicht am 12. Oktober, hatte Edward Snowden in gewohnt klaren Worten und Begriffen erklärt, warum das nicht geht:

[James Clapper, US-Geheimdienstdirektor] was directly asked by a senator who knew that mass surveillance was occurring, if the NSA was collecting any records at all on millions or hundreds of millions of Americans, and he said "No". "No, Sir, they are not." [...] And that was untrue.

Die Vorhaltung des BBC-Reporters, er habe - als besonders zugangsberechtigtem Mitarbeiter - das Vertrauen verraten, das der NSA in ihn gesetzt habe, widersprach Snowden:

It's actually not the trust that I've betrayed, because when you enter into service at the Central Intelligence Agency, the National Security Agency, you are asked to swear an oath to defend the constitution of the United States against all enemies, foreign and domestic. If these agencies are engaged in unconstitutional activities - and the courts have sided with me that these activities were unconstitutional -, they should not make us swear an oath to stand up and stop such activities when we witness them.

Es ist kein Wunder, dass Snowden ziemlich allein bleibt: wer derart konsequent seinem Gewissen folgt, macht sich keine Freunde - nicht bei den Unterdrückern, aber auch nicht bei den Unterdrückten. Denn mit Snowden stellt sich jedem Rädchen im System die Frage, was er falsch mache, oder was er anders machen müsse als bisher. Es ist eine sehr unbequeme Frage. So unbequem, dass Patrick Sensburg, der Vorsitzende des NSA-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages - eines Ausschusses, den es ohne Snowden nicht gegeben hätte, und der eher von der Bundesregierung kontrolliert wird, als dass er pflichtgemäß die Bundesregierung kontrollieren würde - Snowden mühelos in Frage stellen kann: Das weiß ich noch nicht, ob er ungeheure Verdienste auf seine Seite gezogen hat.

Die Macht zweifelt an dem, der sie in Frage gestellt hat. Das ist ein Pseudozweifel - das hat Methode.

Dass ein Bundesbürger - auch ein in Maßen politisch interessierter - die Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik seines Landes nicht hinterfragt: geschenkt. Man wird auf ein Thema nicht aufmerksam, wenn es den eigenen Wahrnehmungskreis gar nicht erreicht. Dafür den Bürger verantwortlich zu machen wäre vermutlich falsch, oder mindestens ein unvollständiger Erklärungsversuch.

Aber wie ist es möglich, dass der Normalverbraucher glaubt, die politischen F'ührer, die sich in den Rundfunknachrichten als Sachwalter seiner persönlichen Rechte präsentieren, seien seine Freunde? Die Routine schafft hier offenbar Fakten: diejenigen, die er allabendlich (massenmedial) in sein Wohnzimmer lässt, müssen ihm und seinen legitimen Interessen gut gesonnen sein, denn sonst hätte er sie ja nicht hereingelassen. Ein Fluchttier mag auf eine Veränderung in seiner Umgebung vorübergehend panisch oder jedenfalls beunruhigt reagieren, aber wenn es an eine bestimmte Umgebung gebunden ist, gewöhnt es sich nach kurzer Zeit an die neue Situation - notfalls ohne sie verstanden zu haben. Oft reagiert ein Mensch ganz ähnlich.

Wie problemlos etwaige potenzielle kritische Fakultäten des Publikums mittlerweile medial erledigt werden können, führten DFB und die Medien in der vergangenen Woche vor: mit einer Fußballveranstaltung wollte man "ein Zeichen setzen". Mit Hilfe einer Branche also, die von nichts weiß und von nichts wissen will, es sei denn, es geht gerade um unsere Werte, unsere Kultur und unsere Freiheit. (Besonders teuer kann dieses Dreigestirn demnach wohl nicht sein.)

Das ist der postmoderne deutsche Massenmensch, und so darf man mit ihm reden: er lässt sich, nur wenige Tage, nachdem sich der Weltfußball jahrelang als Hort der Intransparenz und der Rechenschaftsverweigerung präsentiert hat (und die versprochene neue Offenheit sich erst einmal beweisen müsste), den Fußball als Demonstration "unserer Werte" an den Hals jauchzen. Ein weniger manipuliertes Publikum müsste bei solchen Ansagen aufschreien, und das nicht vor Begeisterung.

Die Feierlichkeitsmasche funktioniert, wie das meiste, was von Übel ist, längst global. So in Amerika, so in Deutschland, so auch in Frankreich.

In Paris verkündet der Premierminister, "la sécurité est la première liberté". Der Sicherheitsbegriff lasse sich mit dem 2. Artikel der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 begründen, behaupten laut Andréa Fadin und Rémi Noyon die diejenigen, die einen solchen Sicherheitsbegriff seit Jahrzehnten vertreten: eine "Pirouette" nennen das Fadin und Noyon. Korrekt interpretiert habe im Januar 2004 hingegen der frühere sozialistische Justizminister Robert Badinter die Erklärung:

Was in der Erklärung der Menschenrechte [von 1789] besiegelt wird, ist die Sicherheit, will sagen die Zusicherung an den Bürger, dass die Macht des Staates ihm gegenüber nicht in einer willkürlichen und maßlosen Weise ausgeübt wird. Das Recht auf Sicherheit ist die Garantie der persönlichen Freiheiten des Staatsbürgers.

Ce qui est consacré dans la Déclaration des droits de l’homme, c’est la sûreté, c’est-à-dire l’assurance, pour le citoyen, que le pouvoir de l’Etat ne s’exercera pas sur lui de façon arbitraire et excessive. Le droit à la sûreté, c’est la garantie des libertés individuelles du citoyen.

Aber wo das Stockholmsyndrom wütet, nützt keine Vernunft. Als von Natur aus gut gilt dem Indoktrinierten der Machthaber, und von Übel ist der Zweifler. Der Zweifler nämlich gefährdet die Sicherheit: so sicher, wie auf der Weltkarte Gott oben ist und die Hölle unten.

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Note

*) Mehr Kontext hier

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Angriff auf Verschlüsselungstechnologien, Netzpolitik, 19.11.15

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