Wer Respekt will, muss darum kämpfen

Medien und Fortschritt ---

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Es gab bis vor vielleicht zwanzig Jahren maßgebliche Medien in Deutschland, die wurden kommentarlos gelesen. Überhaupt wurde fast alles Geschriebene oder im Fernsehen und Radio Gesagte schweigend zur Kenntnis genommen.

Und es gab maßgebliche Medien in Deutschland, die widerwillig respektiert wurden - dazu gehörte insbesondere der "Spiegel", ein Magazin, das mit dem Slogan "SPIEGEL-Leser wissen mehr" und einem Logo für sich warb, auf dem ein streberhaft in die Höhe gereckter Zeigefinger dieses "Wissen" auf den Markt trug.

Widerwillig war der Respekt, weil der "Spiegel" auf sein Publikum wirkte wie ein Rechthaberkollektiv (das fand vielleicht zum Teil auch Gefallen, aber davon habe ich nichts mitbekommen). Und außerdem tat man so etwas nicht - man machte sich zum Beispiel nicht über den Dialekt eines Bundeskanzlers lustig. Aber man las - den "Spiegel" musste man haben.

Ich glaube, dafür gab es zwei wichtige Gründe. Zum einen war der "Spiegel" mindestens so establishment-kritisch wie heute so manche kritische Onlinezeitung. Man konnte dort lesen, was der Politikteil der Lokal- oder Regionalzeitung nicht brachte. Man konnte dort allerdings manchmal auch Kolportagen lesen, deren Wahrheitsgehalt sich jeder Überprüfung entzog. Aber das "wusste man". Oder man glaubte es zu wissen. Zumindest darf ein Großteil des inzwischen verstorbenen Publikums für sich in Anspruch nehmen, gegen emotionales Ankeilen - jedenfalls in seinen späteren Jahren - immuner gewesen zu sein, als es das Publikum heute ist.

Die Gründe liegen auf der Hand - für Deutschland muss - spätestens - das Jahr 1945 ein beispielloses Jahr der Wahrheit gewesen sein. Das ist ein Grund für die unaufgeregte, aber tendenziell wohlwollende Skepsis der Alten gegenüber mäßigem Nonkonformismus wie dem des "Spiegel". Ein weiterer Grund war das Gefühl, nach einem katastrophalen Absturz (dessen Ende mal als Befreiung, mal als Niederlage gewertet wurde) Fortschritte zu erleben: wirtschaftlich, technisch und sozial. Und mit beidem verbunden war die Geschichte des "Spiegel" selbst: das Gründungsnarrativ (Menschenskind, hier steht ja, daß sie dich zensieren dürfen, Rudolf. Geh wieder rein und laß das rausstreichen!), aber auch die erwiesene Vertragstreue des Nachrichtenmagazins gegenüber den Werten der Verfassung und insbesondere einer funktionierenden Opposition: 103 Tage lang war Augstein von 1962 auf 1963 in Haft.

Wer heute eine gescheite Presselandschaft will, wird zu ihr beitragen müssen - ob er nun Journalist ist oder nicht. Mindestens als Leser, der seine Entscheidungen im ursprünglichen Wortsinn kritisch trifft. Der professionelle Journalismus in Deutschland ist zwar nicht bedeutungslos geworden, aber als Berufsstand schwächelt er.

Auf Seiten des Publikums gibt es dabei eine Art Bockigkeit oder Vertrotztheit, die sich selbst mit "kritischer Haltung" verwechselt. Die ist ankeilbar - sei es durch "Bild", sei es durch "Russia Today", sei es durch einen opportunistischen, manipulativen Mainstream. Diese Haltung gab es auch vor zwanzig Jahren, aber gelegentlich schämte sie sich noch. Das tut heute im Regelfall weder der Opportunist noch der Kritiker.

Andererseits gibt es Anfänge zu einer neuen Medienlandschaft. Ihre beste Beglaubigung sind Widerstände aus dem Establishment.

Kritik im Verbesserungsprozess ist gut: man muss sich schließlich selbst darüber klar werden, was besser werden muss. Falsch ist aber ein Überhandnehmen der Kritik zu Lasten des Bessermachens. Wir brauchen nicht mehr Wutartikel, sondern mehr gute Beiträge. Ob die Mainstreampresse das vielleicht doch noch hinkriegt, oder ob wir - das Hein-Blöd-Kollektiv - das selber machen müssen, ist dabei zweitrangig.

Wir brauchen mehr Fortschritt, und der Fortschritt braucht öffentliche Räume, in denen er verhandelt werden kann.

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Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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