Es gibt Nachrufe, die gehen einfach nicht. Der Guido Westerwelle, der jetzt der Öffentlichkeit per Weichzeichner vermittelt wird, war nicht der Westerwelle, den die Öffentlichkeit seit den 1990er Jahren kannte.
Es kommt aber auf das an, was ein Politiker bewirkt hat, und nicht darauf, ob er nach Feierabend einfach ein netter Kerl war. Sein Wirken wäre kritisch zu würdigen. Und das Ergebnis kann aus einer irgendwie linken Perspektive nicht wirklich gut ausfallen.
Als die britische Königin Elizabeth II. nach dem Tod ihrer (mutmaßlich ungeliebten) Schwiegertochter nicht das Maß an Trauer zeigte, das ihr Volk für angemessen hielt, wurde sie zum öffentlichen Nekrolog gezwungen - und sie sagte etwas, was man durchaus als Spitze gegenüber der aufgepeitschten, millionenfachen "Trauergemeinde" auffassen konnte: Millions of others who never met her, but felt they knew her, will remember her.
In "Flat Earth News" bildete rund elf Jahre später der Journalist Nick Davies in "zehn Regeln" ab, wie der Pressebetrieb funktioniere. Bei großen Toten müssten die Medien alle emotionalen Register ziehen, selbst oder gerade dann, wenn die Öffentlichkeit cool bleibe - wie zum Beispiel beim Tod der Königinmutter.
Die Vorsicht, mit der in den Nachrufen Westerwelles Mitverantwortung für den 18-Prozent-Wahlkampf der FDP 2002 →behandelt wird, geht gar nicht. Das war ein Tiefpunkt in der Geschichte der demokratischen Parteien Deutschlands. Oder in den Worten eines ausgeschlafenen Artikels seinerzeit: es ging um eine Chiffre für den Größenwahn einer Ära, in der das Denkbare als das Mögliche ausgegeben wurde, in der die alten Regeln auch im politischen Geschäft scheinbar nicht mehr galten, so im Herbst 2002 der "Spiegel".
Man wird den wenigsten Menschen in Deutschland absprechen können, fleißig zu sein. Dass die "Welt" Westerwelle nun in ihrem Nachruf hervorhebt, Westerwelle sei gerade das gewesen, ist erschreckend. Nicht, weil es nicht zuträfe, sondern weil sich das von selbst versteht.
Es ist Propaganda, die das zusammenbringt mit der "Mehrheit dieses Landes", die Westerwelle "nie etwas verziehen" habe, auch nicht "einer in der Tat problematischen Mentalität ('spätrömische Dekadenz')".
Korrektur: keine polemische Zuspitzung einer in der Tat problematischen Mentalität ("spätrömische Dekadenz")
Auch eine solche Mentalität, die weiß Gott nicht nur die Westerwelles war, wirkte. Sie hatte praktische und schlimme Auswirkungen, bei dem einem die Augen wirklich feucht werden können - aus Mitgefühl und Wut.
Wir Deutschen werden ihn vermissen, schreibt die "Welt". Zu spät, mit Westerwelles Krebserkrankung, habe die Öffentlichkeit dessen "weiche Seite" wahrnehmen können.
Westerwelle verdient Respekt. Sein Andenken auch. Aber dass das ganze Land oder Volk ihn vermissen werde, darf bezweifelt werden.
Kommentare 16
Tote sind über persönliche Kritik hinaus. Aber wenn ihr Wirken in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit propagandistisch weichgespült ("Freitag" oder gar mit fragwürdigen Kombinationsmitteln (sein Fleiß / seine polemische Zuspitzung einer in der Tat problematischen Mentalität gerechtfertigt ("Welt") wird, muss man sich m. E. damit auseinandersetzen.
Pietät gegenüber den Toten ist wichtig; Pietät gegenüber den Lebenden erst recht.
Man hätte auch die Nachrufe über den Cleverle aus Baden-Württemberg heranziehen können, um zu belegen, dass Nachrufe einer Etikette folgen. Manche Medien schrieben, er habe sich die letzten Jahre aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Andere schrieben näher an der Realität, dass seine Demenz Ursache war.
Vielen Nachrufen ist gemein, dass sie schon längst vor dem Tod des Nachzurufenden verfasst worden sind. Als Profi-Schreiber und kommerzielles Medium hat man stets auf der Lauer zu liegen. Pietätvoll ist das nicht zwangsläufig.
Andere schrieben näher an der Realität, dass seine Demenz Ursache war.
Ja. Aber dieser Teil der Pietät ist m. E. unpolitisch, und tatsächlich eine Frage der generellen Rücksichtnahme. Wenn Späth und Angehörige sich einen diskreten Umgang mit seiner Demenzerkrankung wünschten, stand dem ja kein berechtigtes öffentliches Interesse entgegen.
Warum möchte man sonst unbedingt sofort so ein Teil für den Fall der Fälle in der Schublade liegen haben?
Man möchte nicht nur, man muss. Manche oder alle China-Korrespondenten der 1990er Jahre hatten ein Manuskript fertig. Da niemand wusste, wann Deng Xiaoping sterben würde, hatten wohl die meisten dortigen Politik-Korrespondenten aus Deutschland einen nahezu fertigen Nachruf vorgeschrieben, den sie dann im Februar 1997 nur noch mit ein paar Sätzen aktualisieren mussten. Diese Hausaufgabe wurde von mindestens einigen Korrespondenten jeweils gleich während der ersten Tage nach ihrer Akkreditierung in Beijing erledigt, und die meisten werden ihn nach ein paar Jahren Arbeit dort unveröffentlicht wieder mit nach Hause genommen haben..
Das wird derzeit bei Xi Jinpings Vor-Vorgänger Jiang Zemin sicher nicht anders gehabt. Aber auch das ist ja nicht pietätlos, sondern vorsorgend.
Mir scheint, es geht nie darum, die Ansichten eines Publikums um 180 Grad zu wenden. Guido Westerwelles öffentliches Vermächtnis wurde meiner Wahrnehmung nach in den letzten Monaten entpolitisiert. Ziel war es nicht, dass die Menschen seine früheren Ausfälle jetzt gut finden sollten - sie sollten sie aber auch nicht in einem politisch unversöhnlichen Licht sehen. Ein realistisches und im allgemeinen auch erreichtes Ziel, möchte ich meinen, wenn ich die Reaktionen der Zeitungsleser sehe. Das geht nur, wenn der Mensch in den Vordergrund rückt, und sein politisches Vermächtnis in den Hintergrund.
Was ich für einen propagandistischen Schaden halte.
Vom kreatürlichen Schicksal Westerwelles kann man exemplarisch ergriffen sein, durch die Vermenschlichung im Leid, so man sie denn beobachtet hat, sollte man mit diesem schroffen Charakter versöhnt sein, und überhaupt: über Tote nichts Schlechtes ist eine wahrhaft zivilisierte Haltung. Aber in der Lobhudelei das vielleicht einzige Mal, wo Westerwelle etwas richtig gemacht hat, beim Nein bzw der Enthaltung im Libyen-Feldzug, von seinem größten Fehler zu sprechen, wie man es im Fernsehen hören mußte: widerlich.
Wenn ein Mensch mir begegnet, und ich etwas für ihn tun kann, muss ich ihm helfen. Wenn das, was ich sage oder tue, einem Menschen schaden kann (egal, ob ich ihn kenne oder nicht), muss ich überlegen, ob ich es trotzdem sage oder tue. Ich soll wissen, was ich tue.
Aber mit Westerwelle ist das wie mit Gerhard Schröder und dem jungen Mann, der sich ihm angeblich mit den Worten vorstellte, man kenne sich ja bereits "vom Fernsehen". Kann ich mir gut vorstellen, dass das wirklich stattgefunden hat.
Ich tue mir keinen Gefallen, wenn ich den Menschen und nicht den Politiker Westerwelle in den Vordergrund rücke. Ich tue ihm keinen Gefallen damit, und keinem der ihm nahestehenden Hinterbliebenen.
So lange der Respekt gewahrt bleibt, ist kritische Distanz kein Schaden, sondern ein Nutzen. Von Nachteil ist die weit verbreitete Illusion der Nähe.
Wir haben uns schon ein bisschen gemocht - Das schreibt Gregor Gysi. War es nicht so, dass Westerwelle viel Ärger hatte, weil er sich im UNO- Sicherheitsrat - als es um eine Flugverbotszone über Libyen ging - im Namen Deutschlands der Stimme enthalten hatte. Ganz sicherlich auch in Abstimmung mit der Kanzlerin, die ihn - das beschreibt er in seinem Buch - im Krankenhaus und außerhalb besucht hat.
Merkel und Westerwelle haben auch dieses Ding mit dem Köhler als Bundespräsident ausgeheckt. Gegen Schäubles Ambitionen auf den Job. Das war bei einem Abendessen in einer Berliner Wohnung.
Mich stimmen alle solche Sachen versöhnlich. Ich sehe dann immer, wie die - nach der heftigen Streiterei in der Talkshow - in die Kneipe gehen oder wenigstens noch ein bisschen zusammen quatschen.
"Exemplarische Ergriffenheit" - das ist eine Wendung, die mir gefällt. Das mit Libyen hatte ich auch gerade beim Wickel.
Ich muss Ihre Meinung ja nicht teilen, ...
Müssen Sie nicht - das gilt ganz unabhängig davon, was rechts vom Komma steht.
Meinen Respekt haben Sie aber trotzdem, auch zu Lebzeiten.
Gilt meinerseits genauso.
Ich versuche mal eine Antwort, die vielleicht auch eine Antwort auf Angelias Kommentar ist.
Wir haben uns schon ein bisschen gemocht - Das schreibt Gregor Gysi.
(Das sagte er, oder?)
Klar - Gysi und Westerwelle kannten sich persönlich. Behaupte ich, Westerwelle sei ein Monster gewesen? Das Problem mit Gysi ist in diesem wie in manchem anderen Fall, dass er einfach zu "nett" auftritt - das hat natürlich andererseits ihm und seiner Partei auch einen Bonus eingetragen.
Aber ich kenne keinen von beiden persönlich. Sie, Magda, kennen allenfalls den einen oder anderen von der einen oder anderen Live-Bühne persönlich - oder Sie, Angelia, von einer Demo-Begegnung. Aus meiner Sicht ist das keine Begegnung in dem Sinn, dass man einen anderen Menschen wirklich kennenlernt.
Ist auch gar nicht wichtig. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen - an ihrer Wirkungsweise. Westerwelle war ein Mensch, aber in seiner medialen Vermittlung war und ist er vor allem ein Symbol. Und die "Welt" nutzt das optimal: sie hebt seinen "Fleiß" hervor, als wäre nicht jede politische Karriere eine Ochsentour, und drei Absätze weiter, vor seiner Erkrankung habe man ihm nichts verziehen; auch nicht seine "polemische Zuspitzung einer in der Tat problematischen Mentalität ('spätrömische Dekadenz')".
Das ist eine propagandistische Synthese. Sie versucht nicht einmal, einen passenderen Begriff für die "spätrömische Dekadenz" zu finden: sie bestätigt den Begriff.
Noch einmal: Westerwelle zählt im propagandistischen Kontext nicht als Mensch. Das ist nicht meine Wahl; das bringt der mediale Vermittlungsbetrieb so mit sich. Westerwelle zählt - in seiner öffentlichen Wirkung, die über seinen Tod hinausgeht -, als mentaler Katalysator, und die "Linke" schweigt pietätvoll dazu, vielleicht, weil sie glaubt, der Anstand gebiete es so; vielleicht aber auch, weil sie Angst hat, damit womöglich ein Fass unkontrollierbar hässlicher Emotionen aufzumachen, mit denen sie sich selbst schaden würde.
Scheuklappen sollte man sich trotzdem keine aufsetzen.
→Ging auch an Sie, Angelia.
Ja, das stimmt schon alles. Aber, ein bisschen Heuchelei ist dabei auch - wenn es angesichts seines Todes geschieht - bitteschön. Die Leute wissen doch, dass der zu aktiven Zeiten unter Dauerbeschuss stand. Und meist aus gutem Grunde.
Wie ging denn gleich der schöne Spruch
Auf jedem Schiff
das dampft und segelt
gibts einen
der die Waschfrau vögelt (Das ist volkstümliches Kulturgut)
Es gab - zu Anfangszeiten des Freitag - mal ein Video. Das hatten Augstein und Grassmann zusammen in der Post-Ablage - Rumpelkammer vom Freitag gedreht. Da gings gegen diese spätrömische Dekadenz. Heute macht ers ja mit Blome und professioneller. Damals aber war das schon lustig
Jeder kannte den Slogan "Radio Westerwelle" usw. usw.
Versöhnung würde ich das nicht nennen wollen, sondern eher dass man auch beim politischen Gegner etwas sieht, was allen Menschen in der Exitenx des Todes gemeinsam ist sowie auch schlimme menschenfressende Krankheiten bei den jeder Mensch ein bestimmtes wenn auch wohl induviduell unterscheidliches Risiko hat, dass sie ihn treffen auch wenn das alles für sich zusammen genommen auch eine Banalität im Sinn einer Selbstverständlichkeit ist.
Ja, das ist es ja eben - es ist eine Selbstverständlichkeit. Auf dieser Selbstverständlichkeit als Grundlage wird aber m. E. ein falsches öffentliches Wahrnehmungsgebäude errichtet.
Und das ist dann eben doch Versöhnung - nach dem Motto: wir sind alle Kinder der gleichen Natur, des gleichen Gottes, oder des gleichen was-weiß-ich.
Kreatürlich, oder was weiß ich. Darüber wird mir zu viel geredet, angesichts der Tatsache, dass es (angeblich) eine Selbstverständlichkeit ist.
Mitgefühl mit dem Leid des Prekariats hingegen ist offenbar keine Selbstverständlichkeit. Oder ist es so selbstverständlich, dass darüber gar nicht mehr geredet werden muss?
Klar, kann natürlich auch sein.
@JR´s China Blog
Jetzt verstehe ich was Sie meinen. Sie haben Recht. Danke für die Aufklärung. Bei mir geht so manches nach dem Gefühl, was aber den Nachteil hat, dass so richtige Gedanken, wie Sie sie zum Beispiel mit dem "Mitgefühl des Leid des Prekariats, dass offenbar keine Selbstverständlichkeit ist" leider nicht kommen.
„Es gibt Nachrufe, die gehen einfach nicht.“ "Es kommt aber auf das an, was ein Politiker bewirkt hat, und nicht darauf, ob er nach Feierabend einfach ein netter Kerl war." Wahre Worte. Sehr wahre Worte.
Deshalb habe auch ich mich durchgerungen, den "Dieter Bohlen der Politik" kritisch zu würdigen.