Betreute Demokratie – oder echte?

Zukunft Natürlich geht es im SPD-Streit über "Groko" oder Opposition auch um Inhalte - vor allem aber um die Frage, wie die soziale Demokratie im 21. Jahrhundert aussehen soll

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Wer eine echte Zukunft der Sozialdemokratie will, sollte anfangen, wieder auf Willy zu hören
Wer eine echte Zukunft der Sozialdemokratie will, sollte anfangen, wieder auf Willy zu hören

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Ist es die Schuld der SPD, oder die der Presse? Niemanden scheint zu interessieren, warum die FDP ihre schwarzgrünen Bräute in letzter Minute vor dem Traualtar stehen ließ und dem Ruf der Wildnis folgte. Es gab keinen anschwellenden staatsbürgerlichen Verantwortungsgesang mit dem Dauerthema, die FDP müsse sich aus staatsbürgerlicher Verantwortung wieder einkriegen und eine Jamaika-Koalition möglich machen, bei Androhung sofortiger Neuwahlen mit Scherbengericht im anderen Fall.

Wahrscheinlich hätte es auch nichts geholfen, wenn die SPD der Union sofortige Koalitionsverhandlungen angeboten hätte, nur um diese platzen zu lassen. Die FDP wäre auch als zweite Wahl der Union nicht in die Bredouille gekommen, in der sich jetzt die SPD befindet.

Und das liegt ganz sicher nicht nur an der SPD, sondern auch an der Art, wie über sie geschrieben wird. Irgendetwas muss an einer Partei schon dran sein, die von rechts und links so vielfach gehasst wird.

Es liegt nicht nur an der "Agenda 2010", nicht nur an der Art und Weise, wie sich manche Sozialdemokraten als Politrentner zu spätberufenen Business Piepels wandelten, oder daran, dass sich der Verdacht aufdrängen könnte, beim Bemühen darum, jetzt doch noch eine Groko aufzustellen, gehe es vor allem um Arbeitsplätze. Also, um die im Willy-Brandt-Haus und in der Bundestagsfraktion.

Blickwinkel erweitern

Aber Mutlosigkeit ist das letzte, was die Partei jetzt gebrauchen kann. Sie muss sich auf eine Zeit besinnen, die vor das Godesberger Programm der späten 1950er Jahr zurückgeht. 1939 befand Willy Brandt, Sozialismus sei

mehr als die Übernahme der Produktionsmittel durch den Staat. Der Sozialismus muss auf Freiheit und Demokratie aufbauen, will er eine Politik führen können, die ihn wirklich berechtigt, diesen Namen zu führen.

Nun lässt sich über den Verstaatlichungsbedarf auch in Krisenzeiten immer noch streiten. Aber dieser Streit müsste überhaupt erst einmal stattfinden.

Wenn Sozialismus auf Freiheit und Demokratie aufbaut, dann heißt das, dass er Wählerinnen und Wähler überzeugen muss. Das heißt zum Beispiel: statt Hängen und Würgen bei der "Mietpreisbremse" oder "Wohngeld"-Debatten, die Privatbauherren die Mietkohle hinterherwerfen, müsste über sozialen Wohnungbau als Normalfall und nicht als Lückenfüller letzter Ordnung geredet werden.

Und wenn es stimmt, dass für den akademischen Nachwuchs Vereinbarkeit von Familie und Beruf vor Karriere geht (man muss so idealistische Ansagen mit ein bisschen Vorsicht lesen), dann muss die SPD sich um ein größeres Bild bemühen als bisher.

Dazu gehören Vorbereitungen der Politik auf die digitalisierte Arbeitswelt, auf Fragen der informationellen Selbstbestimmung, auf Zugangsgerechtigkeit bei der Verwendung von Daten ... kurz: auf das, was die Kanzlerin vor Jahren einmal als "Neuland" bezeichnete.

Das heißt: Brot-und-Butter-Angelegenheiten – das geht die meisten Bürger etwas an. Aber digitale Daten sind die Rohstoffe des 21. Jahrhunderts. Sie entscheiden in weiten Teilen über Macht- und Einkommensverteilung. Was auf diesem Gebiet für die SPD zu tun ist (oder wäre), hat man ihr schon vor über vier Jahren gepredigt.

Erste Schritte

Fairerweise muss man zugeben, dass über das große Bild leicht reden ist, wenn das "Sondierungspapier" bereits durchgewunken ist und jetzt die üblichen "Groko"-Verhandlungen anstehen. Was müsste die SPD jetzt tun? In ersten Schritten?

Die Unterhändler der SPD dürfen nicht die Union und nicht das Sondierungspapier zum Maßstab nehmen, wenn sie in Kürze in die Verhandlungen gehen, sondern ihre stimmberechtigte Basis. Die muss (gedacht) mit am Tisch sitzen – sie ist die größte Stärke der SPD.

Es ist nicht grundsätzlich falsch, nach den Sondierungen nun auch über eine "Groko" zu verhandeln – die SPD kann so den Wählern zeigen, dass sie alles versucht, um ihnen die ungeliebten Neuwahlen, oder die ungeliebte Minderheitsregierung, zu ersparen.

Aber gelingende Koalitionsverhandlungen – das ist eine der absoluten Basisfakten des Verhandelns – kann es nur geben, wenn die SPD-Unterhändler bei Untererfüllung bereit sind, den Stecker zu ziehen. Dann sollten sie eine Tolerierung anbieten, bei der die Union sich ihre Mehrheiten von Fall zu Fall suchen muss, und dahinter nicht mehr zurückgehen, egal, was kommt.

Das geht nicht? Doch, klar geht das. Im Sondierungspapier steckt bestimmt viel Arbeit, aber die SPD muss sich nicht daran binden.

Das wäre schamlos? Ja, das stimmt. Aber es ist nicht schamloser, als nach einer vergeigten Wahl trotzdem an der kollektiven Spitze zu bleiben, und nach einer angekündigten Oppositionsrolle wieder zu Koalitionsverhandlungen anzutreten.

Demokratie wagen

Führung und Basis müssen sich entscheiden – im Zweifel unterschiedlich voneinander: wollen sie "ein bisschen Gerechtigkeit", oder wollen sie ein Land, in dem die Menschen zwischen politischen Alternativen wählen können? Wollen sie betreute Demokratie oder wirkliche Demokratie?

Sozialismus muss auf Freiheit und Demokratie aufbauen – siehe Zitat oben. Er muss den Mut haben, selber Angebote zu machen, anstatt einer virtuellen "Mitte" nachzujagen. Das größte Problem der SPD ist, dass sie derzeit, und seit langem, versucht, einen "Wählerwillen" umzusetzen (in dem Rahmen, den die ökonomischen Mächte in diesem Land ihr setzen), anstatt den Bürgerinnen und Bürgern ein Angebot zu machen, das sie annehmen, aber eben auch ablehnen können.

Wenn die Führung nicht den Mut dazu hat, ist im Anschluss an eine Koalitionsvereinbarung mit der Union die Basis gefragt. Wenn sie eine echte SPD will, muss sie den Mut dazu aufbringen, ihre Überzeugungen zu vertreten und ungewissen Zeiten entgegenzusehen.

Immerhin: die SPD hat eine Basis, die das letzte Wort hat. Darauf können Sozialdemokraten stolz sein. Dass das in der Presse kaum thematisiert wird, hat Gründe, die nichts mit Demokratie zu tun haben, aber viel mit Herrschaft.

Take a chance, SPD. Wer sich in den letzten zwanzig Jahren durch Taktieren und falsche Kompromisse um die Hälfte seiner Wählerstimmen gebracht hat, sollte sich nicht einreden lassen, es sei gefährlich, jetzt damit aufzuhören.

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Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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