Willkommenskultur und Realitätsverweigerung

Alternativlos, Tschakka! Nachher weiß man's besser. Aber es gibt auch vorhersehbare Rohrkrepierer. P.S. im Voraus: zur Realitätsannahme gehört auch die Einsicht, dass Berlin nicht weiterhilft.

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In vierzehn Jahren kann viel passieren. Vielleicht hätte man Wir schaffen das, zumindest aus höchstem exekutiven Munde, vor anderthalb Jahrzehnten noch komisch gefunden, und der Spruch wäre wirkungslos verpufft. Ob das besser oder schlechter gewesen wäre als der bundesdeutsche Status im Oktober 2015, ist eine komplexe Frage. Aber sicher ist: besser als der Status Quo wäre einer, in dem einer Kanzlerin oder ihren Stichwortgebern ein derart blöder Spruch gar nicht erst einfiele.

Wenn ich auf den vierzehn Jahre alten "Zeit"-Artikel verlinke, dann nicht, um Motivationstrainer zu schmähen. Die wollen auch gerne gut leben, und niemand wird zur Teilnahme an ihren Seminaren gezwungen. (Hoffe ich zumindest.) Was der damalige Artikel - der Autor hieß Christian Schüle - allerdings 2011 beschrieb, hilft aus meiner Sicht zum Verständnis des Landes, das von Merkel im vergangenen Sommer mit diesem propagandistischen Leitmotiv angesprochen wurde. Dabei lohnt sich ein Blick auf einen etwas weiteren Zusammenhang. Zunächst Zitat Merkel, in der Bundespressekonferenz am 31. Aguust:

Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden. Der Bund wird alles in seiner Macht Stehende tun - zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen -, um genau das durchzusetzen.

Das sagte sie in ihrer Einführungserklärung. Einige Minuten später begann der Frage-Antwort-Abschnitt der Pressekonferenz:

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie sind in Sachsen von einer rechten Gruppe auf das Übelste beschimpft worden. Geben Sie Menschen dieser rechten Gesinnung verloren, oder versuchen Sie, sie politisch noch zu erreichen, und warum ist dieses Problem vor allem in Ostdeutschland so groß?

BK’in Merkel: Es gehört dazu, dass man als Politiker auch einmal beschimpft wird. Das ficht mich jetzt nicht weiter an. Was mich anficht, ist, dass wir solchen Hass und solche Stimmung in unserem Land haben. Darauf ist meine Antwort ganz klar: Hier muss es eine ganz klare Abgrenzung geben. Hier kann es keinerlei Entschuldigung geben. Natürlich nennen wir unsere Argumente, aber es geht hierbei schon darum, dass man - ich würde sagen - nicht die Spur von Verständnis zeigt. Keine biografische Erfahrung, kein historisches Erlebnis, nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt ein solches Vorgehen.

Jetzt wieder zurück zum "Zeit"-Artikel aus dem Jahr 2001:

Noch nie gab es aus kulturwissenschaftlicher Sicht so viele Brüche wie im 20. Jahrhundert: gebrochene Biografien, gebrochene Linearitäten, gebrochene Träume. Zerstörte Utopien, zerstörtes Glück. Die Sehnsucht nach dem Paradies in der "reflexiven", ihre eigenen Grundlagen bedenkenden Moderne könnte also, massenpsychologisch gesprochen, die Sehnsucht des haltlosen Individuums nach Teilnahme an einer fantasierten Allmacht sein. Milieus zersplittern, Institutionen bröckeln, Partnerschaften wechseln, Familien zerbrechen. Es gibt kein Über mehr und kein Zurück, nur noch das Fort. Der aus sozialen Normen befreite Einzelne lebt in spiritueller Obdachlosigkeit, das allgemeine Lebenstempo steigt, Informationen bestürmen ungefiltert den Geist und Impulse ungebremst die Sinne. Flexibilität ist von der Verheißung zum Diktat geworden, Erfolg zum Schlüsselbegriff einer Epoche. Das einst verbürgte lebenslange Recht auf denselben Arbeitsplatz existiert nicht mehr; der Einzelne ist heute ein Unternehmer seiner selbst mit der Chance und Last zum eigenverantwortlichen Einsatz seiner Ich-Aktie. Sucht er deshalb Hilfe bei Erfolgstrainern, weil diese neue Freiheit ein Fluch ist?

Der Artikel enthielt den Nutzen des Nachdenkens. Auch damals gab es Trends, die von der politischen Klasse (Politikern und politischen Journalisten) als alternativlos dargestellt wurden. Was die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, eine arbeitgebergetragene Denkfabrik, der politischen Klasse vorsetzte, wurde von dieser nicht wie ein Denkansatz unter vielen behandelt, sondern wie Manna aufgesammelt und am gleichen Tage propagandistisch weiterverfüttert. Nur wenige Bürger erinnern sich bewusst daran. Aber es gibt auch Dinge, an die man sich nicht mehr erinnert, ohne sie dabei zu vergessen. In der Regel handelt es sich in solchen Fällen nicht um Glücksgefühle, sondern um Furcht oder Frustrationen.

"Ich sage ganz einfach." Das liest sich wie eine Haftungsablehnung für das selbst Gesagte, noch bevor Merkel ihre fragwürdige Erklärung samt Motivationsslogan überhaupt abgegeben hatte. Man glaubt ihr Unbehagen zu spüren. Das spricht zumindest für eine gewisse emotionale Intelligenz. Ihre Antwort auf die erste Frage - mit einem Bezug auf biografische Erfahrungen, passt ebenfalls dazu.

Also zwei Alternativlosigkeiten: erstens: dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden. Zweitens: keine biografische Erfahrung, kein historisches Erlebnis, nichts, aber auch gar nichts rechtfertige solchen Hass und solche Stimmung in unserem Land.

Klar, stimmt. Aber nicht alles, was dabei im Wege steht, ist Hass oder Stimmung. Je mehr Basis bzw. je mehr kommunalpolitisch, desto weniger tschakka.

Angedeutet wurde in der Pressekonferenz lediglich, wie das Land Flüchtlinge aufnehmen solle, und nicht, ob es das tun solle. Schon gar nicht wurde gefragt, inwiefern eine Verantwortung Deutschlands für die Flüchtlinge sich aus außenpolitischen oder außenhandelspolitischen Versäumnissen ergibt. Das war nicht in erster Linie ein Versäumnis der Kanzlerin, sondern eins der Presse. Es war aber auch ein für die Bundesregierung überaus opportunes Versäumnis der Presse. Und es bedeutet, dass die Beteiligten an dieser Performance, die ja der Information der Öffentlichkeit dienen soll, ihren Aufgaben nicht nachkommen, und von denen manche statt dessen wiederum ihrer »Maßlosigkeit freien Lauf lassen.

Auch eine solche Leistungsverweigerung ist durch nichts gerechtfertigt.

Statt dessen:

Frage: Frau Bundeskanzlerin, für wie sinnvoll halten Sie die politische Debatte, die es jetzt gibt, dass Politiker aus dem Westen mit dem Finger auf den Osten zeigen und umgekehrt? Bringt uns das weiter?

Klar, es gibt Menschen, die solche Themen wirklich interessieren. Mich hätten aber andere Fragen interessiert.

Etwa so: inwieweit ist die jetzige Flüchtlingspolitik eine Fortsetzung der INSM-Politik? Wenn es tatsächlich humanitäre Belange sind, die die Bundesregierung motivieren, wie kann es dann sein, dass es "sichere Drittländer" gibt, in die jederzeit abgeschoben werden kann? Ist nicht das Asylrecht ein Individualrecht, das eine entsprechende Einzelprüfung erfordert? Meinen Sie im Ernst, es gäbe Staaten, die ihrer Verantwortung gegenüber den Grundrechten des Einzelnen in allen Fällen gerecht würden?

Das grundlegende Problem ist nicht, dass die Kanzlerin sich auf eine Mehrheit beruft, welche die sie tragenden Parteien 2013 gewählt hat. Das ist ihr - gutes - verfassungsmäßiges Recht, das eben vom Wahltag in die Zukunft reicht und nicht nur am Wahltag aus Vergangenes würdigt. Wir kommen dem Problem der demokratischen Legitimation aber mit Merkels Antwort auf eine vergleichsweise kritische Fragestellung aus der Pressekonferenz näher:

Ob Sie es mir glauben oder nicht: Ich denke im Augenblick überhaupt nicht an Wahlkampf, sondern nur an die Frage, wie wir die Probleme, die ich benannt habe, vernünftig lösen und dem, was unser Bild von uns selbst ist, gerecht werden können, und zwar Bund, Länder und Kommunen zusammen.

Dieses "wir/uns" taugt nichts. Wer einen Wahlkampf unter demokratischen Parteien über ein "heißes" Thema nicht will, der überlässt es im Zweifel undemokratischen Parteien. Und er setzt - wie bei vielen anderen Projekten auch - aus Opportunismus eine Zivilgesellschaft voraus, die es in diesem Land nur in Ansätzen gibt.

Jeder zweite Bundesbürger bescheinige der Politik Realitätsverlust, zitierte "die Welt" eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach:

Dabei sei den Bürgern klar, dass nur ein Teil der Maßnahmen kurzfristig wirken könne, heißt es. Sie erwarteten aber Klarheit über die Ziele der Politik.

Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Ein Kommentar in einem konservativen Medium warnte die politische Klasse in dieser Woche (sinngemäß und aus der Erinnerung) davor, die Staatsgläubigkeit der Deutschen zu unterschätzen. Anstatt sie zu negieren (weiterhin sinngemäß), müsse man dieser Staatsgläubigkeit vielmehr gerecht werden (oder sie jedenfalls mit in Rechnung aufnehmen).

Das war ein kluger Rat vom konservativen Holzweg - so etwas kommt ja vor. Auch im "Reader's Digest" stehen manchmal gute Sachen.

Der Tipp war aber leider nicht realistischer als zum Beispiel eine Aufforderung, wir alle müssten netter zueinander sein als bisher.

Ja, müsste man wohl. Man müsste aber vielleicht auch den Erfordernissen einer Zeit gerecht werden, in der nur ein ausgeprägtes, zivil couragiertes Staatsbürgertum ökonomische Interessengruppen daran hindern könnte, sich den Staat und seine Organe als Beute abzugreifen. Ein Zivilbürgertum, in dem keine - biografisch oder anders Gekränkten - ihren Ohn- oder Allmachtsfantasien gegenüber Zuwanderern freien Lauf lassen, sondern in dem eine Willkommenskultur so selbstverständlich ist wie Augenmaß mit gutem Gewissen. Eine Zivilgesellschaft, in der nicht die Zweitschwächsten die Schwächsten verprügeln, sondern Maßstäbe entwickeln, an denen sich ihre gewälten Vertreter tatsächlich messen lassen müssen.

Idealerweise eine Zivilgesellschaft, die auch über die Grenzen ihres Landes hinausblickt, und die sich für die Ursachen von Flucht und Vertreibung interessiert.

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Kennt vielleicht jemand einen guten Motivationstrainer?

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