Wolfgang Lieb steigt aus

Medien Wolfgang Lieb, Mitherausgeber der Nachdenkseiten, sieht die Leserschaft nicht als Gefolgschaft sondern als Gegenüber. Nun zieht er sich aus dem Blog zurück. Ein Kommentar

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wolfgang Lieb verlässt die "Nachdenkseiten". Die Anfänge der "Seiten" kenne ich gar nicht (oft ist das sinnvoll, wenn man einschätzen will, was da gerade passiert), aber manche der von Lieb genannten Gründe finde ich nachvollziehbar. Die Differenzen scheinen eher in dem Bild zu liegen, dass sich Müller und Lieb (jeweils) von ihren Lesern machen (wie sie sind, worauf sie "anspringen" und worauf nicht), und nicht so sehr in der Sache. Aber auch im Umgangston sieht Lieb ein Problem.

"Kampfpresse" ist ein Kampfbegriff. Kurz und knackig, aber eben auch manipulativ.

Wer selbst potentielle und für politische Veränderungen auch notwendige Bündnispartner derart attackiert, dass sie sich – schon aus Selbstrespekt – abwenden müssen, schwächt und spaltet die um einen gesellschaftlichen Fortschritt bemühten Kräfte,

schreibt Lieb, und verlinkt diesen Post Albrecht Müllers als Beispiel.

Als halbanonymer Blogger muss ich mich von niemandem abwenden, weil er mich beleidigt. Manchmal tue ich das, wenn ich das Gefühl habe, es grüße täglich das selbe Murmeltier, mit immer gleichen Botschaften. Aber es hat mir manchmal auch genützt, mich nicht abzuwenden, und durch die Beleidigungen hindurch das Argument zu suchen. Auch von seinen selbsterklärten Feinden kann man manchmal lernen. Wenn man in einer großen Öffentlichkeit steht, mag das allerdings ein Luxus sein, den man sich nicht leisten kann.

Skeptisch werde ich, wenn ich von Lieb Sätze lese wie,

Wer Kollektivurteile gegen Journalisten fällt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er kollektiv ausgegrenzt wird.

Unfreundliche Reaktionen von Journalisten und Publizisten z. B. auf die "Nachdenkseiten" mögen begreiflich sein. Sie dürfen sich aber, so lange Journalisten und Medienwerker sich selbst ernst nehmen, nicht unreflektiert bleiben, denn dann beeinflussen sie mit einiger Wahrscheinlichkeit die eigentliche, eigene Arbeit.

Als Russland im Sommer 2008 den Konflikt mit Georgien militärisch gewann, den Propagandakrieg aber verlor, führte das der BBC-Korrespondent Paul Reynolds darauf zurück, dass Russlands Informationspolitik gegenüber westlichen Medien wenig offen gewesen sei.

Unabhängig davon, wer in der Misstrauensspirale die Henne und wer das Ei war: Reynolds leuchtete das gleiche Problem aus wie Lieb. Nein - wundern muss man sich nicht darüber, dass auch Journalisten beeinflussbar sind. Aber man sollte sich als Journalist (vielleicht sogar als Blogger!) gelegentlich selbst misstrauen, weil es so ist. Wenn persönliches Beleidigtsein umschlägt in Ausgrenzung, Nichtbeachtung oder Diffamierung, ist das in erster Linie ein Fehler des Beleidigten. Er räumt denen, die ihn kränken, unnötig viel Einfluss über sich selbst ein.

Ehrlich gesagt: ich glaube, so läuft das im Normalfall auch gar nicht. Die meisten Journalisten sind nicht Michael Kohlhaas, sondern ziemlich durchschnittliche Zeitgenossen: manchmal mutig, zu oft angepasst, mitunter viel zu eitel oder ehrpusselig. Und in den letzteren Fällen haben sie mehr Angst vor denen, die über ihre Laufbahn oder ihren Arbeitsplatz entscheiden, als vor einem Schiss vor den Koffer von ziemlich wütenden, aber im Zweifel auch ziemlich einflusslosen Kritikern.

Die Verpflichtung zu einer möglichst objektiven Berichterstattung hängt nicht davon ab, wie sich Kollegen oder leider nur potenzielle, sich der Presse verweigernde, Interviewpartner verhalten. Das Ziel, professionell zu sein und noch professioneller zu werden, ist selbst ein Wert, unabhängig von dem, was andere tun. Und selbstverständlich heißt das nicht, dass man "wertefrei" berichten müsse - oder auch nur könne. Ein Fortschritt wäre es schon, wenn man zwischen den klassischen Formaten "Nachrichten" und "Kommentare" unterscheiden würde.

So oder anders: wenn ich Lieb richtig verstehe, will er Leser nicht als Gefolgschaft, sondern als Gegenüber sehen. Das finde ich gut, und bin gespannt, was daraus wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

JR's China Blog

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden