Das Trauma erwacht im Alter

NS-Verfolgte Viele Opfer des NS-Regimes sind heute hilfsbedürftig. Die Pflegewissenschaft bemüht sich, Pflegekräften Hilfestellung zu geben

"Ich mache nur meine Arbeit in einem ganz normalem Altenheim". Doch was die Ergotherapeutin Sibylle Schurich so lapidar als Alltag bezeichnet, ist alles andere als Routine. Immer wieder wird sie unerwartet mit Schicksalen der NS-Geschichte konfrontiert. Sie erzählt von dem 90-jährigen ehemaligen Bahnangestellten, der die Erschießung von jüdischen Kindern miterlebte und nicht einschritt. Der seinen Job weitermachte, denn von irgendetwas musste die Familie ja leben. Er sagte Frau und Kindern nie etwas davon, weil er sie nicht belasten wollte. Sibylle Schurich erzählt von einer Kommunistin, von den Nazis inhaftiert, die sich im Altenheim mit einer damals überzeugten Nationalsozialistin anfreundete. Beide wussten von der Geschichte der anderen. Sie beschreibt einen Streit zwischen einem im Zweiten Weltkrieg Desertierten, der im Altenheim bei einem Nazi-Kader im Zimmer landete, was fast in einer Prügelei endete.

Geschichte lernen und verstehen

Was die Ergotherapeutin erlebt, ist der Alltag vieler in der Altenpflege Beschäftigter. Täter- wie Opfergeneration sind in ein Alter gekommen, in dem sie nicht mehr für sich selbst sorgen können. Und im Alter bricht das, was 60 Jahre lang unter den Teppich gekehrt wurde, wieder hervor. Altersdemenz und Hilfsbedürftigkeit bringen die Barrieren im Kopf zu Fall. Plötzlich redet ein alter Herr von seiner Arbeit bei Himmler. Traumatisierte Opfer finden sich mental in ihre Verfolgungssituation zurückversetzt. In diesen Momenten verwandelt sich das Pflegepersonal für sie in ihre Folterer. So bat eine Krankenschwester einen alten Herrn, seinen Koffer für die Reise in die Sommerfrische zu packen. Am nächsten Morgen fand sie ihn verängstigt auf seinem Koffer sitzend, im Glauben, er würde wieder abgeholt und ins Konzentrationslager gebracht.

Auslöser für solche Retraumatisierungen können sehr kleine und alltägliche Ereignisse sein: laute Schritte auf dem Gang, die Nachtwache, die auf ihrem Kontrollgang das Licht einschaltet, oder nur ein zu harscher Tonfall. Das Personal in den meisten Altenheimen ist nicht für den Umgang mit traumatisierten NS-Verfolgten geschult, oft kennt es nicht einmal die Geschichte der Heimbewohner. Dass ein Patient Opfer der Nationalsozialisten oder auch Täter war, offenbart sich oft erst später. "Wer würde schon einer Fremden seine Lebensgeschichte auf den Tisch spucken, obwohl er sie seinen eigenen Angehörigen verschwiegen hat?," formuliert Sibylle Schurich das Problem.

Schurich erfährt sehr viel Unterstützung durch die Heimleitung. Trotzdem musste sie selbst zunächst viel über die NS-Geschichte lernen, um ihre Patienten verstehen zu können. Noch immer fehlt eine systematische Ausbildung. "Vor zwölf Jahren haben wir versucht, das Thema der Pflege von NS-Verfolgten anzugehen, damals gab es kaum Resonanz. Heute ist ein großes Interesse in der Welt der Altenpflege da", erzählt Sonja Schlegel vom Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte. Im Juni veranstaltete der Verband ein Symposium mit dem Titel "Kein Ort der Zuflucht für hilfsbedürftige NS-Verfolgte". Außerdem unterstützt der Verband die Kampagne für eine kultursensible Altenhilfe, die am 1. Oktober in Berlin begann. Sie setzt sich dafür ein, Pflegeangebote für Menschen mit verschiedenstem kulturellen Hintergrund zu schaffen. Auch auf diesem Symposium zeigten sich das große Interesse und die große Ratlosigkeit, was den Umgang mit Traumatisierten angeht. Es gab viele Fragen und wenige Lösungen. Das Personal müsse geschult werden, bis hin zu den Reinigungskräften und sonstigem Hilfspersonal. Zudem müssten die Pflegekräfte Supervision erhalten, um selbst aushalten zu können, was ihnen die Pflegebedürftigen erzählten. Sonja Schlegel begann während ihrer Beratungstätigkeit irgendwann zu träumen, dass sie selbst im Konzentrationslager saß. "Das war der Zeitpunkt als ich Supervision verlangte."

Sibylle Schurich ging anfangs den Patienten aus dem Weg, von denen sie wusste, dass es ehemalige NS-Verfolgte waren, aus Angst, ihre Geschichten nicht ertragen zu können. "Später haben die Patienten, denen ich nahe stand, eingefordert, dass ich mit ihnen rede." Heute setzt sich die Beschäftigungstherapeutin bewusst mit der Geschichte ihrer Patienten auseinander. Statt mit ihnen zu basteln, betreibt sie Biografiearbeit. Oftmals machen sie gemeinsame Ausflüge zu Orten ihrer Erinnerung, auch zu Gedenkstätten.

Dass NS-Opfer und Verfolgte, wenn sie pflegebedürftig werden, eine besondere Aufmerksamkeit nötig haben, veranlasste den Pflegewissenschaftler Wilfried Schnepp, ein Forschungsprojekt zu diesem Thema ins Leben zu rufen. Schnepp und seine Mitarbeiterinnen Corinna Kronsteiner und Christine Haufe von der Universität Witten/Herdecke untersuchten in den vergangenen zwei Jahren die speziellen Pflegebedürfnisse von NS-Opfern. Im Mittelpunkt dieser Arbeit standen Shoah-Überlebende, die in jüdischen Altenheimen ihren Lebensabend verbringen. Kronsteiner und Haufe führten intensive Interviews mit Pflegepersonal und Heimbewohnern in vier der acht jüdischen Altenheime in Deutschland.

"Wir können bei den Shoah-Überlebenden ein großes Bedürfnis nach Sicherheit feststellen. Sie erleben das jüdische Altenheim als sichere Insel, als Ort, an dem sie ihre Traditionen leben können und vor Übergriffen geschützt sind", erzählt Schnepp. In Bezug auf antisemitische Übergriffe seien die Bewohner jüdischer Altenheime sehr sensibel. Sie verfolgten die Ereignisse in Israel und in Deutschland sehr genau. Was die jüdischen Traditionen angehe, gäbe es allerdings unterschiedliche Ansichten. Schließlich treffen hier mit deutschen und russischen Juden auch unterschiedliche Kulturen aufeinander. In Russland war es lange Zeit nicht möglich, jüdische Traditionen zu pflegen. Allerdings sei die Sprachbarriere das größte Problem, denn viele der im Alter aus Russland Zugewanderten sprächen weder deutsch noch jiddisch.

Erstaunlich ist vielleicht, dass manche Überlebende sich in hohem Alter entscheiden, zurück nach Deutschland zu gehen. Manche kommen, weil sie hier bessere finanzielle Unterstützung finden als in ihrer Wahlheimat, andere wollen ihren Lebensweg dort beenden, wo sie ihn begonnen haben.

Beim Personal stellten die Forscher eine hohe Sensibilität und auch eine große Bereitschaft zur Mehrarbeit fest, ohne die eine intensive Beschäftigung mit den Menschen nicht möglich wäre. Erleichtert wird die Arbeit in den jüdischen Altersheimen allerdings dadurch, dass das Personal im Umgang mit Retraumatisierungen geschult ist und dass keine Täter und Opfer zusammentreffen können. Außerdem stammen viele Pfleger ebenfalls aus jüdischen Familien.

Angebote für die praktische Altenpflege

Die Interviews in den jüdischen Altenheimen sieht Schnepp nur als Beginn einer umfassenden Forschungsarbeit. In den kommenden Jahren möchte er die speziellen Pflegebedürfnisse verschiedener Gruppen von Opfern herausfinden. Verfolgte Sinti und Roma, Homosexuelle, Zwangssterilisierte und Zeugen Jehovas sind andere Betroffenengruppen, zu denen Schnepp sich um Kontakte bemüht. Des weiteren gibt es viele NS-Verfolgte, die sich keiner bestimmten Gruppe zuordnen lassen. Schließlich konnte schon das Hören eines ausländischen Senders ins Konzentrationslager führen. "Wir wollen Material für die Altenpflegeausbildung erarbeiten, etwa für Weiterbildungen. Die Altenpflege in Deutschland hat schon begriffen, dass man der Diversität der Menschen entgegenkommen muss. Das Personal steht natürlich unter ganz großem Arbeitsdruck, aber es weiß ganz tief, das sind Menschen, die kann man nicht so pflegen wie andere Menschen", erklärt Schnepp.

Eine ähnliche Forschungsarbeit wie die Wittener Pflegewissenschaftler hat der Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte vor. "Wir planen eine eigene demoskopische Erhebung darüber, wo ehemalige Verfolgte leben, wie sie sich versorgen und wie ein Heim für diese Leute aussehen würde", sagt Sonja Schlegel. Sie glaubt, dass es bestimmte Ballungszentren gibt, etwa von polnischen Zwangsarbeitern im Raum Hannover. Sonja Schlegel ist optimistisch, was den Erfolg dieser Erhebung betrifft. Die Mittel seien bereits beantragt, die nötigen Kontakte beim Bundesverband ohnehin vorhanden.

Solche Forschungsarbeiten sind ein wichtiger Anfang bei einem Thema, dessen Ausmaße noch völlig im Dunkeln liegen. Die Zahl der im Zweiten Weltkrieg Traumatisierten ist weit höher, wenn Personen berücksichtigt werden, die nicht von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Denn Retraumatisierungen im Alter können auch bei in Bombennächten Verschütteten auftreten oder bei vergewaltigten Frauen. "Viele psychiatrische Krankheiten im Alter sind verschobene Traumata", ist Sibylle Schurich überzeugt. Und Wilfried Schnepp hat die Erfahrung gemacht, dass traumatische Erfahrungen bis in die dritte Generation weitergereicht werden. Die NS-Geschichte, die von vielen gern als abgeschlossen abgetan wird, erwacht in den Altenheimen gerade erst wieder zum Leben.


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