Der enzyklopädische Traum

Genie und Sammelwut Alles wissen wollen! Die vergessene Bildersammlung des Renaissance-Titanen Ulisse Aldrovandi zeigt einen magischen Moment der Naturgeschichte

Es gibt atemberaubend schöne Elche, Igel, Purpurhühner, Schweins­­haie, Nacktschnecken und Hirschkäfer. Bei den Pflanzen leuchten die Feuerlilien, Trollblumen, Zitronenbäume und Stechäpfel. Und dann die Monstren und Fabelwesen: Haarmenschen, Siamesische Zwillinge, Drachen, dreiköpfige Amphibien und äthiopische Einbeiner, die sich in der Mittagshitze auf den Boden legen und ihren riesigen Fuß als Sonnenschirm verwenden. Die Welt des Ulisse Aldro­vandi (1522–1605) besteht aus endlosen Aufzählungen, aus einer faszinierenden Kette von Neuentdeckungen und antiken Geschichten, die in der Renaissance noch einmal in altem Glanz erstrahlen – in einem virtuellen Museum, das seinesgleichen sucht und dennoch wenig bekannt ist.

Tausende von Bildern hatte der Gelehrte und Sammler Aldrovandi für sein Museum anfertigen lassen, als gemalter Ersatz für alles nicht Greifbare und als Vorlage für seine illustrierte Naturgeschichte, von der er zu Lebzeiten nur noch drei Bände selbst publizieren konnte. Sein Naturalienkabinett aus 18.000 Objekten galt einmal als Achtes Weltwunder, und dennoch ist der Ruhm des „Bologneser Aristoteles“ im Vergleich zu anderen Renaissance-Titanen ziemlich verblasst.

Aldrovandi interessierte sich, nach dem Studium der Rechte, der Mathematik, Medizin und Philosophie, immer stärker für die Tier- und Pflanzenwelt und hatte ab 1561 einen Lehrstuhl für Naturwissenschaften in seiner Heimatstadt inne. Er legte einen Botanischen Garten an, unternahm Forschungsreisen mit Studenten und brannte auf die Flora und Fauna aus der Neuen Welt, die den alten aristotelischen Wissenskosmos durcheinanderbrachte. Vor allem aber lebte Aldrovandi für eine enzyklopädische Idee, die bald schon als altmodisch abgetan wurde, bevor sie bei den Enzyklopädisten im 18. Jahrhundert unter anderen Vorzeichen wieder auferstand: Seine vielbändige Naturgeschichte ebenso wie sein Museum sollten die Welt als Ganzes erfassen, ein Mikrokosmos, der den Makrokosmos abbildet.

Endlose Aufzählungen, exakte Beobachtungen

„Nichts ist süßer, als alles zu wissen“, schreibt Aldrovandi denn auch im zweiten Band seiner Ornithologiae von 1600, die die Vogelwelt vom Pfau bis zum Zitronenzeisig katalogisiert. Wie wörtlich dieses „Alles“ gemeint ist, zeigt sich in jedem einzelnen Vogelkapitel: Zum Adler etwa zitiert er die griechischen und römischen Dichter, listet Synonyme auf, klärt die Etymologie, beschreibt Münzen, die mit dem Bild des Vogels geprägt sind, fasst Mythen und Fabeln zusammen, in denen der Adler eine prominente Rolle spielt, bevor er schließlich zu Anatomie, Erscheinungsbild, Lebensgewohnheiten und Adlerkrankheiten übergeht. Auch bei allen anderen Vögeln werden Sympathien und Antipathien verzeichnet, ebenso ihre Verwendung in der Medizin oder auch in der Küche. Das Perlhuhn zum Beispiel schmeckt am besten, wenn man es wie der Römer Apicius mit Koriandersamen und Honig zubereitet, weiß dieses zoologische Standardwerk der Spätrenaissance.

Nichts konnte Aldrovandi weglassen: Alles war relevant, ganz besonders, wenn es von einem antiken Autor schon einmal erwähnt worden war. Dieses exzessive Anhäufen von Information kennt noch keinen strengen Filter, der etwa Natur von Kultur oder Fakten von Fiktion trennen würde – was unter anderem dazu führt, dass in Aldrovandis Bildersammlung etliche Fabelwesen und Monstren auftauchen. Aldrovandi glaubte nicht unbedingt an die Existenz von Drachen oder Hermaphroditen mit Vogelfüßen, aber allein die Tatsache, dass Aristoteles oder Plinius solche Wesen genannt hatten, machte ihre Erwähnung für ihn unumgänglich.

Lange hat die Wissenschaftsgeschichte Aldrovandi – und mit ihm das gesamte 16. Jahrhundert mit seinen Wunderkammern und enzyklopädischen Träumen – für eine etwas unsaubere Durchgangsstation auf dem Weg zu echter wissenschaftlicher Beobachtung und Klassifikation gehalten. So tadelt der Wissenschaftshistoriker Lynn Thorndike noch 1941 Aldrovandis Lavieren zwischen Wahrheit und Gerücht: Einerseits unterstützt der Naturforscher die Idee, dass ein älterer Hahn auch mal ein Ei legen könnte; dass aber aus einem Hahnenei ein Basilisk hervorkriechen könnte, hält er dann doch für unglaubwürdig. An Aldrovandis Adler-Ausführungen stört Thorndike wiederum besonders, dass der Renaissance-Gelehrte dem sprachlichen Zeichen selbst so viel Bedeutung beimisst: neben dem Adler führt Aldrovandi auch noch auf alle anderen Dinge auf, die etwas Adlerhaftes im Namen tragen: Menschen, Flüsse und Städte, die nach dem lateinischen Aquila heißen, ganz zu schweigen von einem Adlerfisch, einem Adlerkraut und dem Adlerstern…

In Michel Foucaults Ordnung der Dinge wird genau dieses Prinzip zum Signum einer ganzen Epoche: Im Zeitalter der Ähnlichkeit sind Verbindungen von Belang, die später als zufällig, unerheblich und irrational gelten. Das Leberblümchen heilt die Leber, weil beide eine ähnliche Form besitzen, die wiederum auch in der Bezeichnung aufgehoben ist. Arbiträre, also austauschbare und rein auf Übereinkunft bestehende Benennungen, gibt es nicht. „Die Zeichen waren Teile der Dinge, während sie im 17. Jahrhundert zu Repräsentationsweisen wurden“, schreibt Foucault – im späteren Zeitalter der Repräsentation wird ein Ding durch einen Namen nur noch vertreten oder repräsentiert, ohne eine tiefere Beziehung mit ihm einzugehen.

Man könnte in diesem besessenen Horten von Namen, Bildern und Objekten aber auch noch andere Antriebskräfte vermuten. Der Traum von Gelehrten wie Aldrovandi – wie auch seines Schweizer Kollegen Konrad Gesner – bestand darin, so schreibt die Wissenschaftshistorikerin Paula Findlen, mit dem Sammeln der Natur zugleich auch deren universelle Wahrheit in ihren Besitz zu bringen.

Im 17. und 18. Jahrhundert werden sich Wissen, Sammeln und Beobachten weiter auffächern: Die barocken Wunderkammern werden immer prächtiger weiter wachsen, die naturwissenschaftliche Erkenntnis aber wird sich mit dem Entstehen des experimentellen Paradigmas von allen ausufernden Beschreibungsorgien verabschieden. Auch in der Zoologie und Botanik wird die relevante Information spätestens seit der Linnéschen Taxonomie auf wenige Stichpunkte begrenzt; ihr Clou besteht darin, Unterscheidungen und Zugehörigkeiten gerade durch ein Minimum an distinktiven Merkmalen festzulegen. Die Kunst des Weglassens ist zur Perfektion gelangt.

Das Besondere war ihm wichtiger als das Typische

In Ulisse Aldrovandis Museum – dem realen ebenso wie dem illustrierten, das auf tausenden von Aquarelltafeln die Natur stellvertretend festhielt – findet vorerst aber sowohl das alte als auch das neue Denken Platz. Aldrovandi spornt die von ihm angestellten Maler und Naturzeichner dazu an, so exakt wie möglich vorzugehen, den persönlichen Stil zugunsten größtmöglicher Detailtreue aufzugeben. Dass dabei das Partikulare oft stärker gewichtet wird als das Typische, hängt mit dem Verständnis der Natur zusammen, das die Spätrenaissance prägt. Im Zeitalter der Naturaliensammlungen, Wunderkammern und Kuriositätenkabinette wird die Natur als kapriziöse Spielerin verstanden – als schöpferische Kraft, die Kunstwerke hervorbringen und, wie zum Zeitvertreib, bizarre Ausnahmewesen erschaffen kann.

Als Ausgeburten dieser Spieler-Natur muss man auch die monströsen und phantastischen Wesen begreifen, die Aldrovandi teils nach älteren Vorlagen zeichnen lässt. Anders als etwa der Freak in späteren Jahrhunderten war das frühneuzeitliche Monstrum keine pathologische Missbildung, sondern ein Zeichen, wie es ja auch die Etymologie des Namens – monstrare heißt zeigen – schon sagt. Ein Monstrum demonstriert die unendliche Schaffenskraft der Natur, die gerade in ihren Abweichungen die Komplexität eines göttlichen Plans unter Beweis stellt. Ebenso gelten auch die anderen Wunder, die in den Wunderkammern ausgestellt werden – etwa die Marmorbruchstücke, in denen man Bilder von Menschen und Tieren findet – als Launen der Natur, die eine überzeitliche Ordnung bestätigen und nicht etwa außer Kraft setzen.

Zwischen Monstren und Prodigien (göttlichen Warnungen, wie etwa Meteoriten), zwischen natürlichen und übernatürlichen Phänomenen wird allerdings genau unterschieden. Indem Aldrovandi gerade die Monstren im Reich der Natur verankert und als Naturforscher erklärt, leitet er einen Prozess der Entmystifizierung ein, wie die Wissenschaftshistorikerinnen Lorraine Daston und Katherine Park in ihrer Studie über Wunder und die Ordnung der Natur festgestellt haben. Das Wunder wird Teil einer Welt, in der die Forscher und Sammler eine immer größere Deutungsmacht für sich reklamieren. Und die Sammlungen existieren nicht mehr nur als Privilegien der Fürsten und Könige, sondern finden sich immer häufiger auch im Besitz von Gelehrten. Die Natur ist ein Fall für Fachleute geworden.

Aldrovandi lässt sich weder ganz auf die Seite der kosmologisch inspirierten Naturgeschichte, noch auf die Seite der von allen Monstren bereinigten Naturwissenschaften schieben – und dieses erkenntnistheoretische Zwischenreich spiegelt sich in seiner faszinierenden Bildersammlung. Von seinen Aquarelltafeln kann man über 2.000 auf der Website der Universität Bologna ansehen (filosofia.unibo.it/aldrovandi) und sich dabei vom enzyklopädischen Furor anstecken lassen. Nichts macht süchtiger, als alles wissen zu wollen.

Jutta Person, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin, arbeitet an einer Publikation über Ulisse Aldrovandi

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