1994: Der Untergang

Zeitgeschichte Die sinkende Ostseefähre „Estonia“ reißt 852 Menschen in den Tod. Die Ursache der Katastrophe ist bis heute ungeklärt. Wird ein Militärgeheimnis vertuscht?
Ausgabe 39/2019

Kurz vor ein Uhr in der Nacht auf den 28. September 1994 verschwindet die Ostseefähre Estonia von den Radarschirmen. Unterwegs von Tallinn nach Stockholm, südöstlich der Insel Utö, sinkt das Schiff in wenigen Minuten und reißt 852 Menschen in den Tod. Zur Erklärung der Katastrophe fehlen bis heute letzte Gewissheiten.

Nach dem Bericht der Untersuchungskommission JAIC soll der Abriss des Bugvisiers zum jähen Untergang geführt haben. Da es in jener Nacht auf der Ostsee zwischen Estland und Schweden einen starken Wellengang gab, hätten die zu schwach ausgelegten Schlösser des auf der deutschen Meyer Werft gebauten Schiffes nicht standgehalten. Dieser Theorie wollte nach 22 Jahren Prozessdauer (!) ein Gericht im französischen Nanterre nicht folgen und sprach im Juli 2019 die besagte Werft wie die Klassifikationsgesellschaft Bureau Veritas vom Schuldvorwurf frei, in sachlicher Hinsicht ein gewiss richtiger Entscheid.

Nach dem JAIC-Report soll das Schiff in voller Fahrt seine Bugklappe verloren haben, wodurch das Autodeck geflutet wurde. Diese Version deckt sich so gar nicht mit den Aussagen von Überlebenden, die angeben, dass die Autorampe bis zum Untergang geschlossen war. Wer zum Wrack taucht, kann das bestätigen. Doch wurden diese Zeugen mutmaßlich auch deshalb von den Ermittlern ignoriert, weil sie angaben, markerschütternde Explosionen gehört zu haben. Insofern gibt es Indizien, die mehr auf einen Kriminal- als auf einen Unglücksfall deuten. Allein über die Ladung des Schiffes fehlen erschöpfende Auskünfte. Ein erst jüngst freigegebener Report der estnischen Geheimpolizei, inklusive der Korrespondenz zwischen dem damaligen Präsidenten Lennart Meri (1992 – 2001) und Polizeichef Jüri Pihl, erlaubt einige Erkenntnisse. Meri hatte sich schon kurz nach dem Inferno bei Pihl nach möglicher illegaler Ladung auf der Estoniaerkundigt und die Antwort erhalten, „dass nach eigenen Nachforschungen 83 Fahrzeuge an Bord“ gewesen seien. Laut der Estline-Reederei habe es jedoch nur 75 verkaufte Fahrzeugtickets gegeben. „Auch auf der Liste des Zolls sind nur diese 75 Fahrzeuge deklariert“, so Pihl, der weiter schrieb‚ „dass sich acht nicht deklarierte LKW an Bord der ‚Estonia‘ befanden, ohne Tickets, jedoch nicht illegal“. Die Ladung eines dieser Gefährte seien sechs Tonnen nicht deklariertes Kobalt gewesen. Pihls Angabe, die Fracht der acht Lastkraftwagen sei als „nicht illegal“ zu bezeichnen, ist aufschlussreich. Ihr lässt sich entnehmen, dass für diese Fahrzeuge entweder eine Transportlizenz oder Ähnliches vorhanden war, ausgestellt von einem Ministerium oder einer anderen Behörde. Jüri Pihl dazu zu befragen, verbietet sich. Der einstige Chef der estnischen Geheimpolizei lebt nicht mehr, jedoch gibt ein anderer, seinerzeit an gleicher Stelle beschäftigter Beamter zu Protokoll: „Im Zuge unserer Ermittlungen bekamen wir auch Hinweise darauf, dass sich zwei Kisten/Koffer mit Nuklearmaterial als Fracht auf der ‚Estonia‘ befanden – natürlich nicht deklariert.“ Wer war der Absender, wer der Empfänger?

Eindeutig kann das noch immer nicht gesagt werden, auch wenn es dazu die Aussage des Grenzschützers Janno J. gibt, der sich am Abend des 27. September 1994 als Schichtleiter estnischer Grenzschützer am Estline-Terminal aufhielt und die Beladung des Schiffes verfolgte. Janno J. bewachte nicht nur den Terminal, er führte auch Buch über die ankommenden Fahrzeuge und sah, wie vier graue russische Militärlaster zur Abfertigung rollten, beladen mit schwerem Gerät, das mit einer Plane abgedeckt war. Von außen seien Ecken und Kanten zu sehen gewesen, so J. Die Fahrer zeigten den Zollbeamten Papiere, die eine Verladung auf die Estonia zuließen. Eine Mitarbeiterin von Janno J. trug die vier Laster in eine Liste ein, die später von J. unterzeichnet wurde. Am Morgen nach dem Untergang erschienen zwei Männer, möglicherweise Geheimpolizisten, um die Herausgabe der Liste zu verlangen. Janno J.s Vorgesetzter stimmte zu und ordnete an, mit niemandem darüber zu sprechen. Danach sollte jene Liste nirgendwo wieder auftauchen.

25 Jahre später fühlt sich Janno J. nicht länger an den Schweigebefehl gebunden, sagt vor der Staatsanwaltschaft in Tallinn aus und lässt keinen Zweifel daran, dass er seine Erklärungen auch vor einem Gericht wiederholen würde. Weil das in Aussicht steht, wird sein Nachname derzeit noch geheim gehalten.

Zusammen mit der seit 2006 vorliegenden Aussage des schwedischen Zollbeamten Lennart Henriksson, der von zwei Militärladungen auf der Estonia sprach, ergibt sich folgendes Bild: Das Schiff wurde mit dem Wissen estnischer und schwedischer Stellen als Transportmittel für russische Militärgüter genutzt – und das, obwohl sich gut 1.000 Passagiere an Bord befanden. Ist es dieser Umstand, den beide Seiten vertuschen? Bleibt die Frage, wer den Untergang der Fähre zu verantworten hat, deshalb weiter unbeantwortet?

Es gab zudem Hinweise auf eine Gruppe nationalistischer russischer Militärs, die in den frühen 90er Jahren von der Kooperation ihres Landes mit den USA wenig begeistert und mit den Verkäufen von Hightech-Rüstungsgütern nicht einverstanden waren. Haben diese Leute Sprengstoffexperten auf die Fähre gelotst, die eine Explosion im vorderen Teil der Estonia auslösten? Dadurch verursachte Sprenglöcher würden das Sinken des Schiffes technisch und physikalisch erklären. Dringt Wasser von unten ein, wird die Luft nach oben verdrängt, und ein Schiff kann sinken, weil sich der Hohlkörper mit Wasser füllt und nicht mehr schwimmt.

Um festzustellen, ob es auf der Estonia tatsächlich eine Explosion gegeben hat, wurden im Jahr 2000 bei einer Tauchaktion zwei Metallteile vom entdeckten Loch im Frontschott des Schiffskörpers abgetrennt und metallurgisch untersucht. Die Materialprüfungsanstalt Brandenburg, das Metall-Institut DN im niedersächsischen Clausthal-Zellerfeld und das Texas Research Institute in den USA kamen unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, dass die Metallteile Spuren von Explosionen aufwiesen. Eine weitere Untersuchung durch die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) in Berlin kam wiederum zu dem Schluss, bestimmte Gefügeveränderungen im Metall seien durch eine Rostschutzbehandlung des Stahls vor dem Bau der Estonia verursacht worden. Man habe den Werkstoff 1978 mit einer Kugelstrahlmethode vorbehandelt. Durch den „Beschuss“ mit den Metallkügelchen seien vermutlich die Gefügeveränderungen ausgelöst worden.

Eine abenteuerliche Behauptung, wie sich herausstellte. In einer winzigen Fußnote verweist der BAM-Bericht auf ein Fax der Meyer Werft, in dem diese auf die Frage nach der angeblich stattgefundenen Kugelstrahlbehandlung geantwortet hatte, dass der Stahl mit Quarzsand behandelt worden sei, der keine Gefügeveränderungen herbeiführe. Die Erklärung der BAM dafür, dass die Aussage der Werft ignoriert bzw. verfälscht wiedergegeben wurde, verblüfft einigermaßen: „Man dachte, die Meyer Werft hatte Kugelstrahlung gemeint“, auch wenn sie ausdrücklich „sandgestrahlt“ geschrieben hatte. Angeblich „... hätten die weiteren Untersuchungen des Metalls dann diese These bestätigt“. Zugleich musste die BAM einräumen, dass es keine Untersuchung gab, die von den realen Bedingungen eines Schiffes im Wasser oder der Möglichkeit ausging, dass die Sprengladung etwa auf einer Magnetplatte angebracht worden war.

Auch hier setzten sich schlampige Nachforschungen fort, wie sie schon beim JAIC-Bericht festzustellen waren. So besteht 25 Jahre nach dem Estonia-Untergang weiterhin akuter Aufklärungsbedarf. Sollten Behörden und Politiker geglaubt haben, es bleibe auf dem Meeresgrund begraben, was mit der Estonia hinabsank, kann dem nur entgegnet werden: Weit gefehlt! Die Kinder der Opfer stellen unbequeme Fragen, und das lauter denn je.

Info

Jutta Rabe ist Journalistin und produzierte mehrere TV-Dokumentationen zum „Fall Estonia“

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