Ideologiekritik als Ideologie

Alternativlosigkeit Ideologiekritik ist heute nicht mehr Kritik an Ideologie und damit Kritik an Selbstverständlichkeiten, sondern ein Herrschaftsmittel gegen die Peripherie des Denkens

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Alternativlos?
Alternativlos?

Bild: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Aus den sozialwissenschaftlichen Studierstuben kam in den siebziger Jahren der schillernde Begriff der Ideologiekritik. Selbstverständlichkeiten sollten auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Heute ist der Vorwurf der Ideologie ein Mittel der politischen Mitte geworden, um die Peripherie des politischen Denkens zu diskreditieren.

Ideologiekritik war bislang mehr ein sozialwissenschaftlichen Anliegen als ein Thema in die Politik. Es hat sich vom ehrenwerten Anliegen zur populistischen Massenvernichtungswaffe gewandelt. So wird gerne alles und jeder, der von der eigenen Meinung zu weit abweicht, als "ideologisch" bezeichnet. Der Begriff der Ideologie wird verwendet, um jemanden vorzuwerfen, dass er oder sie eine Idee von etwas über die Realität stellt und damit die Thematik gar nicht richtig fassen könne. So forderte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) eine “ideologische Abrüstung" in den Griechenland-Verhandlungen. Dabei ist Ideologie im sozialwissenschaftlichen Verständnis viel mehr genau die Meinung, die gesellschaftlich so fest verankert ist, dass sie selbstverständlich geworden ist und nicht mehr selber erfasst werden kann. Also nicht die Abweichung, sondern ihr unreflektiertes Zentrum. Die ideologischen Säulen unserer Gesellschaft sind daher entstanden aus vergessenen Selbstverständlichkeiten, die aber keineswegs ewige Wahrheiten sein müssen.

Wenn PolitikerInnen aus der Mitte nun die Randbezirke der gesellschaftlichen Diskurse als ideologisch bezeichnen, dann reklamieren sie für sich einen Wahrheitsanspruch, den sie gleichzeitig den anderen absprechen: Ideologisch (und populistisch) sind in ihren Augen immer die anderen, was das Nachdenken über die eigene Position unmöglich macht. Dass sie derzeit verstärkt alle anderen Positionen als ideologisch bezeichnen verweist aber auch darauf, dass die Selbstverständlichkeiten der herrschenden Meinungen in der Mitte zunehmend zu zerfallen drohen. Das Zerfallen geht dabei nicht auf eine steigende Kritikfähigkeit qua bessere Bildung zurück, sondern auf das Scheitern der Ideologie an der Realität. Der neoliberale Konsens der Mitte, von Grünen, SPD und CDU, bröckelt. Dieses auseinanderfallen der neoliberalen Selbstverständlichkeit provoziert den Vorwurf der ideologischen Verblendung an die aufkeimenden Alternativen. Der Ideologievorwurf wendet sich daher von der ideologischen Mitte an die Randbezirke politischer Praxis. Oder anders gesagt: Die große Alternativlosigkeit zerfällt und überzieht die Alternativen mit dem, woraus sie selbst besteht: Ideologie.

Mit voller Wucht haben sich in den letzten Jahren die Selbstverständlichkeiten der Gesellschaft in Luft aufgelöst: Die Rente war und ist nicht sicher, der Kapitalismus führt nicht zu steigendem Wohlstand für alle, was gut für die Wirtschaft ist, ist nicht gut für die Menschen, Wir können nicht immer weiter wachsen, die Klimakatastrophe wird doch nicht gelöst, Griechenland kann durch die Sparpolitik nicht wachsen und jüngst die Erkenntnis, dass Deutschland nicht das friedvolle humanistische Land ist, sondern auch ein Land mit einem massiven Rassismusproblem. Die Realität trifft die Ideologie der Mitte ins Herz. Die traditionellen Parteien der Mitte (CDU und SPD) haben schon lange ihre totale Deutungshoheit verloren, was die Erweiterungen des Parteienspektrums ermöglicht hat. Je stärker die Wahrheiten der Mitte erodieren, desto stärker werden die neueren Parteien mit alternativen Antworten. Paradoxerweise werden diese Parteien dann in der Regel als ideologisch, populistisch und unverantwortlich bezeichnet, dabei sind sie durch die Erosion der Ideologie entstanden: So sind Syriza und Podemos gerade die Negation der Ideologie, nicht ihr Ausdruck. Auch wenn sich das Verhältnis jederzeit drehen kann oder sich bereits dreht.

Man kann sich die alten rechts-links-Schemata auch als zeitliche Abfolge vorstellen. Während rechts immer auf Rückschritt bedacht ist (z. B. Reaktionäres Gedankengut wie Nationalismus, Rasse, Geschlechterdiskriminierung, Sozialdarwinismus usw.) ist richtig verstandenes links auf den Fortschritt bezogen (Hoher Grad an Freiheit und Emanzipation, Gerechtigkeit, Realisierung individueller Bedürfnisse und Ausbildung individueller Fähigkeiten) und die Mitte nimmt die Zeitkategorie des Stillstandes ein. Während man auch dem gesellschaftlichen Rückschritt eine Ideologie unterstellen muss, so sollte der Fortschritt grundsätzlich ideologiekritisch sein - er muss sich selber reflektieren, erst dann kann er aus der Negation der bestehenden Verhältnisse das Bessere denkbar machen und die Möglichkeit eröffnen, dass sich für die Praxis ein Weg öffnet. Die Mitte als Kategorie des Stillstandes ist maßgeblich durch die Ideologie einer friedlichen Bewahrung geprägt. Eine Gleichsetzung von rechts und links, bzw. gesellschaftlicher Rück- und Fortschritt, wird daher offensichtlich unhaltbar und entlarvt die Rückbesinnung auf eine ideologische Mitte.

Die Ideologie der Mitte ist daher vor allem durch den konservativen Impetus beseelt, dass die alten Konzepte immer noch die beste Lösungen bieten, in einer Welt die dynamisch wie nie ist. Gerade die Dynamik in Ökonomie, Politik und Kommunikation ist mit den alten Mitteln der Reformanpassung an die Realität nicht mehr zu bewerkstelligen. So kann eine Rentenreform die menschenwürdige Rente nicht retten, eine Energiewende kann den Klimawandel nicht aufhalten, sich kaputtsparen wird Griechenland nicht retten, der Mindestlohn wird die arm/reich-Schere nicht schließen uvm. Trotzdem werden alle großen Probleme mit kleinen Reformen angegangen, obwohl abzusehen ist, dass diese bei weitem nicht ausreichen werden.

Dazu kommt, dass viele Probleme miteinander verwoben sind. Der Rassismus und die soziale Kälte haben mit der Abstiegsangst vieler Bürger zu tun, unsere Arbeitsmodelle passen nicht mehr zur vorhandenen Arbeit und die meisten Flüchtlinge kommen zu uns, weil unsere Kriege und unsere Ausbeutung (wir kaufen die Produkte und wir sanktionieren die westlichen Firmen nicht, die die Menschenwürde missachten) viele Länder in Asien und Afrika maßgeblich zerstört und verroht haben.

Der Reformismus, der diese Probleme nicht im Zusammenhang sieht, sondern vereinzelt betrachtet und sie auch vereinzelt lösen will, endet in einem Partikularismus. Der Sozialphilosoph Max Horkheimer hat geschrieben: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen". Damit spricht er drastisch aus, was daraus folgt, wenn man die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge nicht mehr in den Blick nimmt. Der Blick über den Horizont ist so kaum mehr möglich. Universalere Lösungansätze, man könnte sie auch revolutionär oder radikal bezeichnen, verschwinden so aus dem Horizont der Politik. Dieser Horizont ist noch durch die Mitte geprägt, die radikale Lösungen stets als ideologisch bezeichnet, ohne zu merken, dass sie selber nur die ideologische Deutungshoheit der Mitte bewahrt. Die Mitte kann daher auch keine Fragen ohne Antworten formulieren, sie ist dem Sachzwang ausgeliefert eine Lösung zu präsentieren.

Neben dem ideologischen Kern der Mitte, gibt es auch noch die reale politische Mitte des Ausgleichs. Diese realexisiterende Mitte als gesellschaftlicher Ort des Ausgleichs von konservativen und progressiven Ideen und Ansprüchen zerfällt aber in dem Moment, in dem der Interessenausgleich nicht mehr organisiert werden kann. In der Wirtschaft ist das Paradebeispiel der Arbeitskampf um das ökonomische Surplus: Hier setzt der Streik ein, wenn kein Ausgleich gefunden wird. In der Politik kommt es in dem Fall eines gescheiterten Ausgleichs zwischen rechts und links zu einer Erweiterung des Parteienspektrums, genau dann wenn die Volksparteien den Ausgleich nicht mehr organisieren können. Wenn sich dann die Mitte in der Bildung von großen Koalitionen einigelt und die Realität für sich reklamiert ohne zu merken, dass sie längst an ihnen vorbeiläuft, dann erscheint die gesamte parlamentarische Politik nicht mehr in der Lage Interessen zu vermitteln.

Ein illustratives Beispiel für diesen Vorgang ist sicher die Griechenlandkrise, in der Schäuble von Beginn an auf die Einhaltung des bisherigen Kurses bestanden hat, obwohl die Realität und die Fakten seit fünf Jahren dagegen sprachen. Stattdessen wurde gleichzeitig der griechischen Regierung Ideologie vorgeworfen, da sie den gescheiterten Kurs nicht fortsetzen wollte.

Diese Haltung ist gefährlich. Wer die Erweiterung des eigenen Horizonts und der eigenen Denkräume rigoros verhindert, der hält das politische Feld nicht in der Mitte, der lässt es erodieren. Die deutsche Regierung unter Merkel und Schäuble muss verstehen, dass sie einen Interessenausgleich in Europa und auch weltweit herstellen muss, aber dafür müssen sie ihre Ideologie der Mitte reflektieren lernen.

Gelingt das nicht, dann wird die Realität das politische Feld früher oder später auch in Deutschland über Nacht erodieren lassen, spätestens wenn sich die ökonomische Lage auf den globalen Märkten weiter verschärft und der Export einbricht. Ein politisches Feld, welches über Nacht seine Mitte verliert, wird sich in links und rechts aufteilen, ohne dass es zu einem Ausgleich kommen wird. Der offen ausgelebte Rassismus dieser Tage lässt befürchten, dass solche Weimarer Verhältnisse blutig werden und die bürgerliche Mitte am Ende wieder nach rechts schwenkt, wenn sich eine Entscheidung zuspitzt.

Um das zu verhindern, müssten jetzt die Ideologien der Mitte reflektiert werden. In einem Prozess, der alle einbindet, müssen neue Wege der Kommunikation gefunden werden. Die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten, leben, lieben und uns organisieren wollen, muss gestellt werden, um die Ideologie der Mitte langsam in einen reflektieren Prozess der geordneten Revolution zu überführen. Revolution verstanden als grundlegende Umgestaltung gesellschaftlicher, politischer rund ökonomischer Organisation. Beispiele wären ein bedingungsloses Grundeinkommen, radikale Demokratisierung der Produktionsstruktur und der europäischen Union.

Mit dem Ende der konkreten Utopien aus den 70er Jahren und dem Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus hat unsere Gesellschaft sehr viel kreatives Potenzial verloren, welches jetzt dringend nötig wäre. Das schlimmste Szenario wäre ein Ende des Kapitalismus, welches die Linke verpassen würde, weil sie selber nicht mehr an ihre radikalen Ideen denkt, die sich dann ergeben, wenn die Ideologie der Mitte durch die Kraft der Realität zu Boden gedrückt wird. Ideologiekritik heute wäre vor allem ein Angriff auf den common sense, um daraus Alternativen zu generieren, nicht der Angriff auf die Alternativen, um damit den common sense zu bewahren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jw

Journalist, Soziologie, Aktivist

jw

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