Madrid: Heute sind wir alle BürgermeisterIn

Madrid Heute wurde die neue Bürgermeisterin Manuela Carmena von den Stadtverordneten gewählt. Die 71jährige steht für die große Hoffnung einer echten Demokratie.

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Madrid: Heute sind wir alle BürgermeisterIn

Foto: Pierre-Philippe Marcou/AFP/Getty Images

Nach einem Vierteljahrhundert haben die Bürger_innen in Madrid am 24. Mai die Alleinherrschaft der konservativen Partido Popular (PP) in Madrid beendet. Endlich haben die Wählerinnen und Wähler ein politisches Angebot bekommen, das sie nicht abschlagen konnten.

Die Hoffnungsträgerin

Die 71jährige Carmena verkörpert die Hoffnung vieler junger Madrileños, die sie zur Wahl überzeugen konnte. In allen Stadtteilen südlich des Zentrums hat ihr linkes Wahlbündnis Ahora Madrid (linke Bürgergruppen u. a. Podemos) die meisten Stimmen geholt. Der reichere Norden ist weiterhin von der PP dominiert. Aber mit einer Stimme Mehrheit im Parlament (zusammen mit der PSOE) konnte sie die Wahl am 24. Mai gewinnen.

Wir sind Bürgermeister

Carmena ist heute mit Hilfe der sozialdemokratischen PSOE zur Bürgermeisterin gewählt worden. Ihre ersten Worte als Bürgermeisterin stehen richtungsweisend für einen neuen Politikstil: “Ahora, todos y todas somos alcaldesas”. Heute sind wie alle Bürgermeister_innen geworden. Dazu benutzt sie das spanische Wort todos (alle) auch gleich in einer Wortneuschöpfung von Podemos, in der weiblichen Form todas. Dazu will sie diejenigen “verführen”, die sie bei der Wahl nicht gewählt haben - wer sie kennt, der weiß, dass sie das durchaus ernst meint.

Bürgermeisterin zum Anfassen

Wer sich die letzten Wochen bis zur Wahl in Madrid aufgehalten hat, der versteht wie Carmena die Menschen überzeugen konnte. Sie schien einfach überall gewesen zu sein - und das auf dem Fahrrad oder in der Metro. Ahora Madrid und Podemos verstehen das Spiel mit den neuen (und den alten) Medien, im Gegensatz zur PP-Kandidatin Esperanza Aguirre, die nicht nur in die aufgestellten Fettnäpfchen getreten ist, als sie z. B. die Korruptionsaffären verteidigen wollte, sondern sich auch noch eigene Fettnäpfchen aufgestellt hat, als sie Carmena ideologisch in Richtung der ETA rücken wollte.

Wahlkampf der Bürger

In Madrid haben die Bürgerinnen und Bürger Wahlkampf für Carmena gemacht, nicht die Politiker und das ist der Unterschied. Wer abends durch Malasaña gelaufen ist, das berühmte Madrider Viertel der Movida madrileña um Pedro Almodóvar, in dem auch Carmena wohnt, der konnte Beamerprojektionen von Carmena an den Häuserwänden sehen. Wer durch das Madrider Neukölln Lavapiés schlenderte, der konnte an jedem zweiten Haus die Poster, Plakate und Sprüche von Ahora Madrid sehen, neben der Fahne der radikalsozialen zweiten spanischen Republik. Die Einwohner haben in Madrid Wahlkampf gemacht, und Carmena ist eine von ihnen.

Carmena mobilisiert

Als die Wahlkabinen am 24. Mai geöffnet wurden, wurde ich unsanft geweckt. Mein Schlafzimmer geht in Richtung Straße, direkt neben einem Wahllokal. Draußen haben sich lange Schlangen zum Wählen gebildet. Die Menschen haben bis zur letzten Minute lautstark diskutiert. Es wehte ein Hauch von Politikinteresse durch die Straßen. So stieg dann auch in den ärmeren Vierteln der Stadt die Wahlbeteiligung um bis zu 7% an.

Revitalisierung der Sozialdemokratie

Carmena will keine Basisdemokratie von oben verordnen, sondern Basisdemokratie von unten leben. Sie hat es geschafft, was Podemos im Sinne des italienischen Marxisten Gramsci erreichen will, die kulturelle Hegemonie. Diese Hegemonie erreichte Carmena aber nicht durch antistaatliche, antikapitalistische oder linksradikale Forderungen, sondern durch die Revitalisierung der Sozialdemokratie, so erinnert ihr 100 Tage Programm auch mehr an eine Sozialdemokratie, die das Wort noch verdient. Kurz zusammengefasst:

  1. Alle Mittel einsetzen, um Zwangsräumungen zu stoppen und alternativen Wohnraum schaffen.

  2. Privatisierungen stoppen, Ausverkauf des öffentlichen Eigentums stoppen.

  3. Gewährleistung der Grundversorgung (Strom und Wasser) für alle Haushalte.

  4. Zugang zu städtischen Gesundheitszentren und Gesundheitsvorsorge für alle.

  5. Entwicklung eines Notfallplans für die Beschäftigung von Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen.

Wer darin eine linksradikale Politik sieht, der sieht sie auch in Papst Franziskus, den Menschenrechten oder dem deutschen Grundgesetz.

In der Sache sozialdemokratisch, in der Form radikaldemokratisch

Neben der Rückkehr der Sozialdemokratie, die in neoliberalen Zeiten schon fast ein revolutionärer Akt zu seien scheint, setzen Manuela Carmena und Podemos auf einen neuen Politikstil und ein demokratisches Verständnis von Demokratie. In der Sache sozialdemokratisch, in der Form radikaldemokratisch - dieses Konzept scheint aufzugehen.

Hoffnung auf echte Demokratie

Neben Madrid werden jetzt auch Barcelona, Valencia und Zaragoza von linken Wahlbündnissen regiert. In Spanien beginnt damit eines der größten demokratischen Experimente in Europa. Wenn Carmenas Hundert-Tage-Programm erfolgreich ist, dann könnte im Herbst Podemos ganz oben in Europa mitspielen und das Kräfteverhältnis zugunsten eines linken Europa verschieben. Genau deswegen darf es für viele Konservative aber kein Erfolg werden. Carmena ist sich dessen bewusst. Aber wenn ich Manuela das nächste mal in der Metro treffe, dann spreche ich sie darauf an, nur um sicher zu gehen. So sehr die Hoffnung in Spanien wieder Luft holt, so groß sind auch die Sorgen, dass es wieder nichts wird mit der ¡Democracia Real YA! ,der echten Demokratie, jetzt!

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Geschrieben von

jw

Journalist, Soziologie, Aktivist

jw

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