"Spanien ist keine deutsche Kolonie"

Wahlkampf Unser Blogger schildert seine Eindrücke aus dem Wahlkampf in Spanien und einer Parteiveranstaltung von Podemos bei Sevilla

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Ja! Podemos-Anhängerinnen und Anhänger im Frühjahr
Ja! Podemos-Anhängerinnen und Anhänger im Frühjahr

Foto: GERARD JULIEN/AFP/Getty Images

Während politische Beobachter in Europa seit Monaten vor allem die Linksregierung Syriza in Griechenland im Blick haben, verändert sich die politische Geographie Spaniens in einer Geschwindigkeit, die vor wenigen Jahren niemand für möglich gehalten hätte. Auslöser dieser Entwicklung ist die neue linke Bürgerpartei Podemos, die versucht, die Repräsentationskrise Spaniens für sich zu nutzen und die erstarrte Politiklandschaft neu zu beleben. Sie profitiert dabei vom Unmut der Bevölkerung, die zwischen den politischen Schwergewichten PSOE und PP kaum noch zu unterscheiden weiß. Unzählige Korruptionsskandale haben das Vertrauen der Bürger in die großen Parteien erschüttert, niemand traut den alteingesessenen Parteien noch zu, die Probleme Spaniens zu lösen. Podemos ist zwar in den Umfragen nur noch drittstärkste Kraft, aber mit einer Überraschung zur Wahl im Herbst muss man immer rechnen.

Podemos will alles anders machen

Podemos will alles anders machen: Korruption bekämpfen, ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine Art Nachbarschaftsdemokratie einführen, wie sie bereits in fast 1000 landesweiten Podemos-Basisgruppen erprobt wird. Podemos ist mehr eine Bewegung als eine Partei, ähnlich wie Syriza in Griechenland, und sie hat es geschafft, linke Positionen vom subkulturellen Milieu in die Mitte der spanischen Gesellschaft zu transportieren. Dabei inszeniert sich Podemos nicht als links oder rechts, sondern als offene Plattform. Grund genug, sich eine ihrer Wahlkampfveranstaltungen genauer anzuschauen. Mich interessiert dabei weniger die Politikverdrossenheit der Spanier, sondern die Mobilisierungkraft von Podemos, die es schafft, fast alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen.

Podemos-Abschlussveranstaltung in Dos Hermanas

Die Podemos-Abschlussveranstaltung findet in Dos Hermanas, südlich von Sevilla statt. Treffpunkt für die Podemos-Anhänger ist das Velodrom, eine große Halle, die sonst vor allem für Sportveranstaltungen genutzt wird. Anderthalb Stunden müssen wir Schlage stehen, noch dazu regnet es ohne Pause, doch niemand beschwert sich. Als ich schließlich in die Halle gelassen werde, fällt mir zunächst auf, wie professionell die Organisation und das Design der Veranstaltung wirken, obwohl Podemos kaum Einnahmen hat. Die Partei finanziert ihre Kampagnen überwiegend über Crowdfunding und Mikrokredite, doch davon ist hier nichts zu spüren. Fernsehkameras stehen bereit, Stühle sind auf neu verlegtem, lila-farbenem Teppich aufgestellt, alles wirkt sauber und auf freundliche Weise einladend. Die Zuschauer verteilen sich hektisch auf die besten Plätze.
Die Halle ist voll, rund 14.000 Menschen hat Podemos an diesem Freitag Abend mobilisiert. Und sie hätten, nach eigenen Angaben, doppelt so viele Tickets vergeben können, obwohl Dos Hermanas gut 15 Kilometer vom Stadtkern von Sevilla entfernt liegt. Zum Vergleich: In Deutschland würde das bedeuten, dass zu einer Veranstaltung der Partei Die Linke 14.000 Menschen von Frankfurt am Main aus ins 18 Kilometer entfernte Langen oder nach Mörfelden-Walldorf pilgern würden, und das an einem verregneten Freitagabend nach Büroschluss. Im Grunde undenkbar.

Atmosphäre wie in einem Fußballstadion

In der Halle herrscht eine Atmosphäre wie in einem Fußballstadion. Die Besucher tragen entweder lilafarbene Kleidung, die Farbe von Podemos, oder grün-weiße, die Farben Andalusiens. Der Moderator betritt die Bühne, die wie ein Boxring mitten in der Halle aufgebaut ist. Er spricht laut und gestenreich, immer wieder fällt das Wort “cambio”, in Anlehnung an das berühmte “change”, das Barack Obama im US-Wahlkampf so erfolgreich eingesetzt hat. Neben mir haben drei Männer in ihren Vierzigern Platz genommen, die mitgebrachte Stullen essen und ein Bier dazu trinken. Hinter mir sitzt eine Gruppe Jugendlicher, die vermutlich schon ihr zweites oder drittes Bier trinken, so ausgelassen und fröhlich stimmen sie dem Redner auf der Bühne zu. Gefühlt sind alle Gesellschaftsschichten vertreten, vom Rentnerehepaar bis zu den Enkeln, die zwischen den Sitzreihen Fangen spielen.
Als der Moderator seine Begrüßungsansprache beendet hat, betritt plötzlich eine Männer-Musikgruppe die Bühne. Verkleidet sind sie mit Perücke und Kostüm und Fatsuit: als dicke Frauen im Bikini. Was in der linken Szene Deutschlands als Sexismus kategorisch abgelehnt würde, ist hier überraschend beliebt. Auf Melodien von Beyoncé und Destinys Child werden politische Lieder gesungen. Ich fühle mich wie beim Karneval, einem Karneval, den ich, anders als meine Sitznachbarn, nüchtern ertragen muss. Im politischen Betrieb Deutschlands wäre eine solche Showeinlage undenkbar. Kurz darauf der nächste folkloristische Programmpunkt: Eine Flamenco-Tänzerin bewegt sich rhythmisch zu den Gesängen eines Männerchors.

"cambio"

Podemos hat angekündigt, dass "cambio" von Andalusien ausgeht, ich wünsche mir nach einer Stunde in der Halle lieber einen Wechsel im Abendprogramm. Dann endlich kommt der erste Redner, zweieinhalb Stunden nachdem ich mich angestellt habe. Einmal mehr merke ich, wie deutsch ich sozialisiert bin. Um mich herum entspannte Ausgelassenheit, und ich ärgere mich über ein zu langes musikalisches Vorgeplänkel und überlege mir, was ich mit den verlorenen 90 Minuten hätte anfangen können. Ich verordne mir also Gelassenheit und lasse die euphorische Stimmung in der Halle auf mich wirken. Immer wieder stimmt das Publikum Gesänge und alte Revolutionsrufe an, z.B.: “El Pueblo unido, jamás será vencido” (“Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden”), ein alter Schlachtruf aus der Salvador Allende-Zeit. Zwischendurch aber auch immer wieder Stadiongesänge, wie das typische Olé.
Als erster Redner des Abends betritt Íñigo Errejón die Bühne, 1983 geboren, Politikwissenschaftler und feste Podemosgröße. Seine Rede ist laut, schnell und zornig. Präsident Rajoy bezeichnet er “schamlos” und erntet Applaus, alle paar Minuten springen die Zuhörer von ihren Plätzen, um zu jubeln. In der Halle ist jetzt eine politische Leidenschaft zu spüren, die ich in einem Land mit so großen wirtschaftlichen Sorgen und weit verbreiteter Korruption kaum vermutet hätte.

Zweite Rednerin: Teresa Rodríguez

Zweite Rednerin des Abends ist die andalusische Spitzenkandidatin Teresa Rodríguez, Lehrerin, 1981 geboren und früher Mitglied bei der Vereinigten Linken (UI), die sie im Streit verlassen hat. “Presidenta, Presidenta” halt es jetzt durch das Velodrom. Rodríguez muss ihre Rede mehrfach unterbrechen, das Publikum hält sich nicht mehr an das Schema von Pointe, gefolgt von Applaus und Jubel. La Ola Wellen schwappen durch die Zuschauerränge, ich fühle mich endgültig wie im Fußballstadion und nicht mehr nur als Beobachter, sondern als Teilnehmer dieser Veranstaltung. Der Funke ist übergesprungen, der Stimmung in der Halle kann ich mich kaum noch entziehen.
Zum Ende ihrer Rede kündigt Teresa Rodríguez den “nächsten Präsidenten Spaniens” an, den unbestrittenen Kopf der Partei, Pablo Iglesias. Iglesias ist mit Abstand der beliebteste Politiker des Landes. Der 1978 geborene Politikprofessor aus Madrid hat es verstanden, verschiedene Bewegungen und Strömungen in Spanien zu vereinen und einen neuen basisdemokratischen Politikstil auszurufen, gegen “la casta”, die politische Kaste. Der Gedanke, dass der Personenkult um Iglesias gegen die eigenen Prinzipien von Podemos verstößt, scheint hier niemanden zu stören. Iglesias’ Rede ist, wie die seiner Vorgänger, laut, schnell, engagiert und kompromisslos. Die Pointen sitzen. “Wir sind die einzig wahre Volkspartei!” ruft er in die Menge. Begriffe, die für die deutsche Linke ein Tabu sind, z.B. “Volk” und “Patriotismus”, verwendet Iglesias ungeniert und häufig. Es gelingt ihm scheinbar mühelos, diese Begriffe für die Linke wiederzugewinnen. Iglesias propagiert einen linken Patriotismus von unten, wobei Patriotismus bedeutet, dass demokratische Selbstbestimmung auf viele Bereiche der Gesellschaft ausgeweitet werden soll. Trotz der engagierten Rede schafft es auch Iglesias nicht, das Publikum ruhig zu halten.
Die dritte La Ola Welle rollt durch den Saal, und meine Sitznachbarn bleiben nur noch für Selfies ruhig auf ihren Plätzen. Iglesias tritt kurz vom Pult zurück und genießt den Anblick der euphorisierten Menge, um kurz darauf einen Satz zu sagen, der nachhallt: “Spanien ist keine Kolonie Deutschlands!” Dann ist das Spektakel vorbei. Unter dem Jubel der Podemos-Anhänger verlässt Iglesias den das Rednerpult.

Wenig Inhalte

Politische Inhalte habe ich nur wenige gehört, aber vielleicht sind Wahlkampfveranstaltungen dieser Art auch nicht der richtige Ort dafür. Bei Podemos geht es vor allem um den versprochenen politischen Wandel. Wie genau der aussehen soll: davon hat sich am heutigen Abend kaum jemand ein Bild machen können. Die Unbestimmtheit von Podemos ist ihre Stärke, sie könnte aber auch schnell zum Nachteil wenden, spätestens wenn es um Fragen nach möglichen Koalitionspartnern und um politische Kompromisse geht. Diese Fragen interessieren heute Abend niemanden. Die Menschen strömen zur Bühne. Weiße, grüne und lilafarbende Luftballons fliegen durch die Halle. Iglesias und seine Mitstreiter nehmen ein Bad in der Menge. Wie im Fußballstadion werden Schals in die Höhe gestreckt: “Tic - tac” ist darauf zu lesen: Die Zeit läuft ab für Ministerpräsident Rajoy und die politische Kaste.
Sollte es tatsächlich diesen Politikwechsel in Spanien geben, der mehr als ein Parteienwechsel sein will, gewinnt also Podemos die Parlamentswahlen im Herbst, könnte es um Merkel und Schäuble einsam in Europa werden. Die linke Bürgerpartei Podemos könnte nicht nur Spanien verändern, sondern die gesamte politische Geographie in Europa. Die Grenzen verliefen dann nicht nur zwischen Austeritäts- und Investitionspolitik, sondern auch zwischen einem kühl-zögerndem Merkiavellismus, einer Begriffsprägung des verstorbenen Ulrich Beck, und einem leidenschaftlichen Willen zum “cambio” in Südeuropa. In Andalusien hat Podemos den Politikwechsel vorerst verpasst. Dennoch deutet vieles auf eine Wechselstimmung hin, auf eine sich verändernde politische Geographie in Europa. Die Wahlkampfveranstaltung in Andalusien ist dafür nur eine seismographische Messung, das Erdbeben wird im Herbst erwartet, zumindest sind sich die Podemos-Anhänger dessen sicher.

Reisen: Mehr als Tourismus

Ich habe an diesem Abend mehr über Spanien, vor allem das neue linke Spanien, erfahren. Und ich bin mir sicher, dass Reisen immer mehr sein sollte als Tourismus, nur so lernt man die Atmosphäre des Landes, die Stimmung der Menschen und das Unverwechselbare einer Region wirklich kennen. Man muss kein Anhänger von Podemos sein, aber man muss sich in die Debatten, die Diskussionen und die politischen Begebenheiten in Europa einlassen, nur so wird Europa wirklich europäisiert. Wer reist und dabei nicht nur Tourist ist, der kann dazu beitragen.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jw

Journalist, Soziologie, Aktivist

jw

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