Täuschungen

Migration Zwei Gedanken zur gesellschaftlichen Debatte

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Es ist ein angenehmes Gefühl auf der richtigen Seite zu stehen. Das Wissen darum die eigene Obrigkeit auf der selben zu wissen, kann dabei wie emotionales Glutamat wirken. „Die Gesellschaft der ich angehöre hat sich entsprechend den von ihr propagierten Werten weiterentwickelt. Gestern war sie xenophob bis ins völkische, heute zukunftsweisend global. - Alle Menschen sind gleich. Hier und anderswo. Und deshalb ist es auch gleich, wer wo ist und mit wem interagiert. Sollte es doch Probleme geben, sind die mittels Nachsteuerung beherrschbar.“

  1. Täuschung: Das Ding mit der Gleichheit
    Gleichheit lässt sich als Abwesenheit von Sonderinteressen definieren. Diese Gleichheit ist nicht naturgegeben, sondern entstand in den Mühlen der Lohnarbeit. Den von Eigentum (an Produktionsmitteln) von feudalen Verpflichtungen (Leibeigentum etc.) Freien werden im Zuge ihrer Verwertung in der industriellen Produktion alle Ecken abgeschliffen bis sie nichts mehr zu verlieren haben als ihre Ketten. Durch diesen Prozess wurden seit Anfang des 19. Jahrhundert Generationen von Menschenmassen auf diesem Kontinent geschickt. Von Limerick bis Jekaterninenburg, von Tromsø bis Nikosia. In diesen Mühlen wurden die Bande der Großfamilien gelockert, die Bedeutung von Religion relativiert, die Bereitschaft zu Leistung auch bei Entfremdung zur Arbeit erzwungen und vor allem jene Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse geschaffen die unter sozialreformerischer, sozialistischer oder kommunistischer Flagge zu den sozialen Fortschritten geführt hat, von deren Resten wir heute noch zehren. (Über die unvollzogene Transformation der Klassenzugehörigkeit zu den heutigen Formen der kapitalistischen Verwertung gibt es sicher einiges zu sagen. Genauso wie zum Wohlstand auf Kosten der dritten Welt. Beides soll aber hier nicht Thema sein.)
    Neben dem Religionsfrieden, im Deutschen Reich nach 30jährigem Krieg noch in vorindustriellen Zeiten errungen, aber in dieser Form nicht für den ganzen Kontinent allgemeingültig, sind die o.g. Prozesse entscheidend dafür, dass Migrationsbewegungen innerhalb des Kontinents leidlich funktionieren. Ja sogar über den Kontinent hinaus mit Regionen, welche die gleichen Prozesse durchlaufen haben. Die Kultur dieser Menschen ist hinreichend kompatibel. D.h. die eigene Anpassungsleistung bei Migration ist nicht allzu hoch.
    Menschen aus Gesellschaften, die solche Prozesse nicht durchlaufen haben, werden wesentlich größere Anpassungsleistungen zu vollbringen haben, wenn sie und ihre Nachkommen dauerhaft in Europa leben wollen. Das Ergebnis wird dann über Integration hinaus gehen müssen und Assimilation heißen. Die Migranten werden die Bereitschaft entwickeln müssen, Partnerschaften ihrer Kinder über die Grenzen ihrer Gemeinschaft hinaus positiv zu begleiten. Nur so entstehen Verwandtschaftsbeziehungen, der Kit jeder Gesellschaft. Auch wenn diese Verwandtschaftsbeziehungen - wie oben erwähnt - nicht mehr den starren Charakter haben wie in vorindustriellen Zeiten, bilden sie doch das wichtigste nunmehr elastische soziale Bindemittel der Gesellschaft. Wer sich als Migrant darauf nicht einlässt, verbleibt in Parallelgesellschaften und setzt sich all den Konflikten aus die damit verbunden sind. (Wie dünn der zivilisatorische Firnis in Europa auch heute noch ist, offenbarten die ethischen Säuberungen während der Jugoslawienkriege.)

  2. Täuschung: Das Ding mit der Weiterentwicklung
    Klar, da waren die sozialen Fortschritte bei Gesundheit, Alter, Bedürftigkeit, Frauenwahlrecht, Urlaub, Achtstundentag etc. Oder weitere freiheitlich-demokratische (Stichwort 68er). Zu der Zeit als diese Fortschritte erreicht wurden, war die heutige Willkommenskultur jedoch noch nicht en vouge. Diese war noch nicht einmal 1993 existent, als die Asylgesetzgebung verschärft wurde.
    Ihr Entstehen hat nichts mit den sozialen Fortschritten in unserer Gesellschaft zu tun. die Zusammenhänge sind andere: Noch 1993 war Deutschland wirtschaftlich eher national orientiert. (Das heißt nicht, dass es keine Exportüberschüsse gab.) Das jedoch, was wir heute Globalisierung nennen, lief damals, kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erst an. Die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands waren in erster Linie auf die Verwertung der Reste der DDR orientiert. In 2. Linie auf die Schaffung des europäischen Binnenmarktes und in 3. Linie darauf, Osteuropa zur eigen Werkbank zu machen. Des Weiteren war die demographische Schieflache noch nicht kritisch und ggf. vorhandener Arbeitskräftebedarf konnte leicht durch den Arbeitskräfteüberhang im Osten ausgeglichen werden. - Insofern war die Verschärfung der Asylgesetzgebung von den Wirtschaftsinteressen gedeckt.
    Heute, ein knappes Vierteljahrhundert später droht die Globalisierung alles über den Haufen zu werfen. Die Politiker haben eine deregulierte Form realisiert, die einseitig die wirtschaftlich Stärksten bevorzugt. Sie waren willige Vollstrecker derer, die nachdem die kontinentalen Felder erfolgreich beackert waren, mehr wollten. Mit der Folge, dass die Schwachen ihren Marsch ins Herz der Finsternis.beginnen
    Doch der Kapitalismus hätte nicht 200 Jahre überlebt, wenn er nicht auch wüsste, wie er diese Herausforderung zu nehmen hat (= Wir schaffen das.). - Das Hofieren der Willkommenskultur hat nichts mit „Wir sind die Guten“ zu tun. Sie ist kein Produkt gesellschaftlichen Fortschritts (der anderen Pfaden folgte) sondern ein Produkt der geänderten Verwertungsbedingungen des Kapitalismus weg von nationalen hin zu globalen. Der Rest ist Marketing.

Es geht nicht darum, Ausländerfeindlichkeit das Wort zu reden, sondern darum, dass sich Linke es nicht so leicht machen sollten, wegen unzureichender Analyse dessen was ist, schlicht der herrschenden Meinung die Steigbügel zu halten. Da geht mehr! Nur wenn es gelingt eine eigenständige Haltung zur Migration zu finden, die auch Perspektiven für „besorgte Bürger“ aufweist, die über ein „Fortschritt für alle! Wir werden euch nicht schlechter stellen als die Migranten.“ hinausgeht, lässt sich die Gefahr eines national-konservativen Roll Backs in Form von Koalitionen zwischen CDU und AfD gering halten.

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