Wohin wird Russland im Sog einer "autoritären Modernisierung", wie sie Wladimir Putin dem Land verordnet hat, gezogen? Kai Ehlers war den ganzen Sommer über in Moskau unterwegs, um diese Frage mit alten Freunden und neuen Bekannten zu diskutieren. Seine Recherchen - ein erster Ausschnitt war im Freitag vom 10. September zu lesen - sind besonders aufschlussreich, nachdem der Präsident am 14. September angekündigt hat, als Teil seines Anti-Terror-Programms die Exekutive erheblich stärken zu wollen, zu Lasten des Wahlrechts, der Duma und der Gouverneure in den Regionen.
Dienstag, 6. Juli 2004
Staat im Staate
Am Abend treffe ich Vitali Sednjew von der Moskauer "Schule für Wirtschaft und Soziales" in einem Café auf dem Kamergerski Pereulok, Moskaus erster Fußgängerzone westlichen Stils. Sednjew entwickelt ein Szenario, das den "autoritären Monetarisierungsdurchmarsch" der Putin-Mannschaft in Frage stellt. Er erzählt von einer soziologischen Studie der Korporation Nojabr-Neft-Gas (einer Tochter des Gaskonzerns Sibneft) an der er beteiligt war. Dort stoße nach westlichen Standards ausgebildetes Management auf kollektiv-korporative Strukturen, denen sich die neuen Führungskräfte anpassen müssten. Die Manager, die jetzt nach Russland zurückkehrten, hätten für diese Strukturen inzwischen den Begriff "korporativer Paternalismus" geprägt - aber sie würden ihn für ihre Arbeit akzeptierten.
Dann schildert Sednjew lokale Wahlmechanismen, die dazu führten, Personen an die Macht zu bringen, die nicht auf Putins Kurs seien. Der Präsident habe das Land keineswegs unter Kontrolle. Es gebe "viel Luft zwischen den vertikalen und den realen Strukturen". In diesen Luftschichten bewegten sich Politiker wie Moskaus Bürgermeister Juri Lushkow oder die Präsidenten Baschkiriens und Tatarstans oder eben jene Korporationen, die als Staat im Staate für Putin nicht zugänglich seien.
Donnerstag, 8. Juli 2004
Mit dem Islam gegen Amerika
Erneut auf dem Kamergerski Pereulok, diesmal im Café Zen. Treffen mit Konstantin Sacharow von der Jabloko-Partei, der dort jahrelang "Koordinator der demokratischen Bewegungen" war. Er geht mit seiner Partei hart ins Gericht: Russlands Liberalismus habe nach dem Enthusiasmus der Reformzeit einen objektiven Rückschlag erlitten. Daran seien auch autoritäre Strukturen bei Jabloko schuld, für die Parteichef Grigori Jawlinski verantwortlich zeichne. Selbst nach der Niederlage bei den Duma-Wahlen Ende 2003 habe der nicht erkannt, welche Fehler ihm anzulasten waren. Schließlich ein Stoßseufzer: Wenn Gott Russland helfen wolle, müsse er dafür sorgen, dass eine anständige Gewerkschaft entstehe.
Danach Gaidar Aschemal! Ich besuche ihn, weil Boris Kagarlitzki (ein unabhängiger Linker, der mehrere Bücher über die Perestroika und den russischen Systemwandel schrieb, s. Freitag 38/04) mir vorgeschwärmt hat, in der jetzigen Situation sei sogar dieser Mann nach "links" gerückt. Was an Aschemal "links" sein soll, muss Kagarlitzkis Geheimnis bleiben. Als Vorsitzender des "Islamischen Komitees" vertrat der stets eine scharf anti-westliche, patriotisch durchwirkte Opposition und stand seit 1991 in einer Reihe mit Alexander Dugin (*), Alexander Prochanow (**) und anderen "Patrioten" gegen Jelzins autoritären Liberalismus. Heute pflegt Aschemal einen mystischen Anti-Amerikanismus.
"Nationalen Imperialismus" nennt er die US-Politik mit gewichtigem Unterton, als ob schon die Definition zum verschworenen Kampfbund einlade. Die USA hätten heute nur einen Gegner: Europa, das Amerika über den Umweg eines Krieges mit dem Islam zu schwächen suche. Über eine solche Konfrontation werde Russland und über Russland Europa in eine Vernichtungsschlacht gezogen. Deshalb müsse man für eine aktive Front aus Muslimen, Russen und Europäern trommeln. Für eine Allianz zwischen Islam und Europa, zwischen Morgen- und Abendland - gegen Amerika.
Bemerkenswert ist allein, dass ein Mann wie Boris Kagarlitzki eine Gestalt wie Aschemal "links" wähnt, während der meint, heute gebe es keine Unterschiede mehr zwischen links und rechts, sondern nur noch "Anti-Globalisten", die gegen die "Verschwörung der Globalisten" antreten müssten. Eine dieser mystischen Allmachts-Fantasien, von denen das an realer Macht so arme Russland überquillt. Die reine Kompensation!
Sonntag, 11. Juli 2004
Künstleridyll Peredelkino
Wochenende und damit die Zeit, da in Moskau kaum jemand zu sprechen ist, weil auch die Letzten, die trotz des drückenden Hochsommers in der Stadt blieben, jetzt auf der Datscha sind. Ich fahre deshalb noch einmal zu Jefim Berschin, dem Schriftsteller (s. Freitag 38/04) - mein Weg führt in die ehemalige Künstlerkolonie Peredelkino. Das heißt, am Sonntag punkt 9.30 Uhr Abfahrt vom Kiewer Bahnhof Richtung Südwesten mit der Elektritschka. Rastloses Treiben im Zug, eine nicht abreißende Kette von Kleinhändlern, dazwischen ohrenbetäubendes Brüllen der Zuglautsprecher. Keine Abfahrtszeiten, sondern Werbung. Ein höllischer Lärm. Pausenlos und grausam.
Himmlische Ruhe dagegen in Peredelkino. Die Stille eines Sanatoriums. Das Künstlerhaus, in dem Jefim für sieben Dollar pro Nacht einen Monat lang Quartier bezogen hat, ist ein imperialer Prachtbau aus besten Sowjetzeiten, dessen verblichenen Glanz jetzt die Verwandten oder Um-Drei-Ecken-Freunde verstorbener sowjetischer Berühmtheiten in Anspruch nehmen. Rings herum stehen die opulenten Luxusvillen der "Novi Russki". Einsame Dichter wie Jefim und sein Freund Alexander Iwantschenko träumen davon, wie herrlich sie schreiben könnten, säßen sie in diesen Herbergen.
Wir kommen im Gespräch auf das Thema "Ökologie der Kultur" - Tagesunterhaltung, so Jefim, verdränge heute dank ihrer technischen Aggressivität die anspruchsvollere Kultur. Auch das Verhältnis von Kultur und Kommerz sei aus dem Lot, der Kommerz beginne die Kultur zu fressen - jedenfalls sehe das in Russland gerade so aus. Erst die nahende Abfahrt der letzten Elektritschka nach Moskau macht diesem Gespräch ein Ende.
Montag, 12. Juli
Wir oder der Zusammenbruch
Die größte Überraschung erlebte ich an diesem Tag beim Treffen mit Alexander Dugin, meinem speziellen Gegenspieler auf dem eurasischen Feld. Mich graust es vor seinen nationalistischen Verzerrungen des eurasischen Gedankens, vor seinen Mystizismen vom "Eurasischen Herzland" und von Russlands Mission als Vollender des III. Rom. Seit Jahren treffe ich ihn vor allem, um die Demarkationslinien zwischen uns nachzuziehen.
Dieses Mal gibt sich Dugin als aktiver Vertreter einer multipolaren Welt, in der Russland ein Zentrum neben dem pazifischen und dem europäischen sei! Auf den Hinweis von mir, dass es bei ihm zu Perestroika-Zeiten und danach ganz anders klang, als er einer Konfrontation des eurasischen Blocks mit dem transatlantischen Block das Wort geredet habe, erklärte er, das seien Kinderkrankheiten aus einer Zeit, in der ihn der emotionale Überschwang mitgerissen habe - getrieben von der Sorge um den Erhalt Russlands.
Das sei vorbei, dank Putin habe sich das Land konsolidiert. Und der werde heute von drei Think Tanks beeinflusst: dem liberal-nationalen, dem eurasisch-patriotischen und dem nationalistischen. Putin selbst sei so etwas wie ein temperierendes Element, das aber bald weggeschwemmt werde. "Dann kommen wir!" - "Wir", das sind die "eurasischen Patrioten".
Die Front, von der Dugin träumt, unterscheidet sich von der Gaidar Aschemals nur durch die religiöse Farbe: Dugin als orthodox-christlicher - Aschemal als muslimischer Polit-Mystiker. Folgerichtig sieht Dugin Aschemal, Prochanow und andere "sa sebja" - "hinter sich". So wie er sich selbst "sa Putina" sieht. "Nach Putin gibt es nur noch uns oder den Zusammenbruch..."
Montag, 19. Juli 2004
Zeitgeiz der Elite
Später Abend: Ich komme soeben von meiner Tour zurück, die teilweise unerfreulich war. Besonders galt das für die Begegnung mit Frau Kruschdanowskaja, die mir als "russische Eliteforscherin" empfohlen worden war. Sie empfängt mich vor der Deutschen Botschaft in der Powarskaja Ulitza (nicht weit vom früheren Haus der Schriftsteller, in dem ich 1991 meine Studien in Moskau begann): Eine sehr beleibte und arrivierte Dame. Meinen Vorschlag, einen Tee in einem nahe gelegenen Straßencafé zu trinken, lehnt sie ab, sie wolle sich nicht zu weit von ihrem Auto entfernen.
So sitzen wir in ihrem schicken Wagen, den sie für einen Empfang direkt vor dem Botschaftsgebäude geparkt hat, und sie eröffnet mir, wenig Zeit und schon drei Interviews an diesem Tage gegeben zu haben. Immerhin lässt sie sich von mir noch den Titel des Buches geben, in dem ich ein Interview mit ihr fand - das kennt sie nicht. Als ich ihr erkläre, sie zur Eliteforschung, aber auch zum Korporativismus, zu Regionen, Ethnien und Generationen befragen zu wollen, meinte sie lakonisch, solche Fragen könne nur jemand beantworten, der den ganzen Tag Zeit habe - die habe sie nicht. Wenn ich wolle, könne ich Antworten in ihren Büchern finden. "Eines erscheint gerade in Deutschland bei einem seriösen Verlag." Kruschdanowskaja betreibt nicht nur Eliteforschung, sie hat sich ihrem Studienobjekt offenbar auch vom Selbstverständnis her angenähert. Aufschlussreich!
Mittwoch, 21. Juli 2004
Volksaktien und Psychologie
Der Duma-Abgeordnete Wladimir Tarassow ist ein skeptischer, verbitterter und misstrauischer Pragmatiker, einer, der aus guten Aufbruchszeiten her noch an eine gute Sache glaubt: die volkseigenen Betriebe. Von denen gäbe es derzeit noch etwa 140 in Russland, beteuert er.
Tarassow ist mein erster Gesprächspartner in diesem Moskauer Sommer, der mich fragt, was er davon habe, wenn er mit mir spreche. Er will kein Geld, er will nur die Erfahrung andeuten, dass westliche Journalisten ihn ausfragten und er nie wieder etwas von ihnen höre.
Immerhin weiß ich nach unserer Begegnung, was man sich im heutigen Russland unter volkseigenen Betrieben vorzustellen hat: Eine geschlossene Aktiengesellschaft, bei der jeder Arbeiter Aktionär ist, und autonome Selbstverwaltungsstrukturen.
Das Problem, so Tarassow, bestehe darin, dass die Regierung Putin bemüht sei, dieser Kategorie von Unternehmen den Garaus zu machen, weil sie deren Eigenständigkeit fürchte und verhindern wolle, dass die Betriebe für Aktionäre von außen - großen Konzernen etwa - verschlossen blieben.
Um 16.00 Uhr habe ich mein letztes Gespräch in Moskau, bevor ich die Stadt am Abend in Richtung Wolga verlasse: Ich treffe den Arzt Viktor Makarow in einem "Psychiatrischen Zentrum", worunter man sich eine florierende Gemeinschafts-Praxis vorstellen muss, in der alles vom Feinsten ist. Offenbar besteht in Moskau eine gewisse Nachfrage nach dieser Art von therapeutischem Beistand. Makarow glaubt, bei seinen Klienten immer wieder ein Gefühl der Schutzlosigkeit und der Zukunftsangst zu spüren. Viele seien leider unfähig, sich selbst zu organisieren. Das sei den Menschen abtrainiert worden. Sich selbst zu steuern und erfolgreich zu sein, das gelinge nur einer Minderheit. Die anderen würden sich im heutigen Russland irgendwie durchschlagen. Was sollten sie sonst tun?n
(*) Nationalbolschewistischer Konservativer, Gründer einer Partei namens Eurasien.
(**) Herausgeber der Zeitung Sawtra, Hauptorgan der patriotisch-nationalbolschewistischen Opposition. Prochanow beteiligte sich an der Revolte gegen Jelzin im Oktober 1993, als das Weiße Haus zusammengeschossen wurde.
Die Gesamtfassung des Tagebuchs ist für den Preis von zehn Euro direkt über den Autor zu beziehen: info@kai-ehlers.de.
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