"Nie wieder deutsche Sonderwege" - "Je weniger Putin, desto besser", stattdessen sollte die transatlantische Partnerschaft belebt werden. Auf dieser außenpolitische Linie führte Angela Merkel die CDU/CSU in den Wahlkampf, sekundiert von Wolfgang Schäuble, der das Schröder-Credo, mit Freunden müsse man offen reden, nicht nur auf die USA angewandt sehen wollte. Statt Wladimir Putin als "lupenreinen Demokraten" zu hofieren, müsse dessen autoritärer Führungsstil, müssten Tschetschenien wie auch der Fall Chodorkowski künftig ein Thema sein. Vermutungen wurden laut, die Ostsee-Pipeline sei von Schröder und Putin nur deshalb forciert worden, um noch vor dem Ende der Amtszeit des SPD-Kanzlers vollendete Tatsachen zu schaffen.
Wie nicht anders zu erwarten, waltet seit dem Antritt der großen Koalition wieder der real existierende Pragmatismus, der den "Neuanfang ohne Tabus" längst abgelöst hat. Schon der Koalitionsvertrag wusste zu beschwichtigen und sagte eine "verlässliche Rolle Deutschlands in der Außenpolitik" zu. Angela Merkel will "bei Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen, gegenüber niemandem auf der Welt und seien es noch so hoffnungsvolle Handelspartner oder noch so wichtige Staaten für Stabilität und Sicherheit". Sie meint freilich derzeit weniger Michail Chodorkowski in seinem sibirischen Verbannungsort, sondern mehr die nach Osteuropa deportierten Gefangenen der CIA. Inzwischen ist der Kanzlerin sogar die US-Kolonie Guantanamo ein Ärgernis, der westlichen Wertegemeinschaft verschafft diese Einrichtung nicht eben viel Überzeugungskraft.
Die radikal-liberalen Umbruchsstrategien gegenüber Russland jedenfalls sind längst ein toter Hund, an einer strategisch angelegten Partnerschaft mit Moskau wird unter der CDU-Kanzlerin so wenig gerüttelt wie unter dem SPD-Kanzler. Russland sei - so Angela Merkel - "als wichtiger Wirtschaftspartner, als Verbündeter im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und natürlich als Land für echte politische Stabilität Europas unverzichtbar." Deutschland habe daher ein besonderes Interesse daran, "dass der Modernisierungsprozess Russlands" gelinge.
So wollte Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) bei der offiziellen Inauguration des umstrittenen Pipeline-Projektes nicht fehlen und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bei seinem Antrittsbesuch in Moskau auf das Bekenntnis zur Kontinuität im bilateralen Verkehr nicht verzichten. Angela Merkel vermied bei ihrer ersten Begegnung mit Jacques Chirac das Wort "Achse" für die deutsch-französischen Beziehungen. Aber der "Motor" - wie sie sich ausdrückte - liege ja auch nicht weit von der Achse entfernt. An eine Gleichbehandlung von Paris und Moskau war damit gewiss nicht gedacht, aber wohl angedeutet, dass die Regierung Merkel nicht beabsichtige, die Beziehungen mit dem einen oder anderen Partner auf Kosten Dritter auszubauen. Realpolitik eben, die auf nüchterner Abwägung von Interessen beruht und daher auch im russisch-ukrainischen Energiehader zur Vorsicht mahnte. Die Kanzlerin vermied dazu bis zuletzt jede öffentliche Parteinahme. Der schließlich gefundene Kompromiss, den Gaspreis für die Ukraine niedrig zu halten, indem teures russisches mit billigerem turkmenischen Gas durch den Zwischenhändler RosUkrEnergo gemischt wird, liegt ganz im Sinne deutscher Bestrebungen, die Ukraine als unabhängiges Transitland für russisches Gas und Öl in ihrer Eigenständigkeit zu fördern, ohne dabei Moskau zu verprellen. Eine andere Haltung kann sich ein Land, das zu 45 Prozent von Öl- und Gasimporten aus Russland und dem zentralasiatischen Raum abhängt, auch kaum leisten, solange keine alternativen Energiequellen beziehungsweise -ressourcen erschlossen sind und zur Verfügung stehen.
Wer augenblicklich das Kabinett Merkel beschwört, die Frage der Energiesicherheit neu zu stellen, verkennt die Realitäten, wie sie nicht nur zwischen Russland und Deutschland, sondern auch zwischen Russland und Europa bestehen. Schon dem so genannten "Greenpaper zur Versorgungssicherheit" von 2002 war zu entnehmen, dass die EU einen kontinentalen Verbund bei einem strategisch motivierten Einschluss der Russischen Föderation anstrebt. Ein Modell, das erkennbar auf Distanz zu Ambitionen in den USA geht, Öl und Gas aus dem sibirischen wie kaukasischen Raum russischer Verfügungsgewalt zu entziehen und sich auf dem Weg über die Türkei autarker Versorgungsstränge zu versichern.
Die rot-grüne Regierung setzte auf Russland als verlässlichen Partner im eurasischen Raum, um einen unersetzbaren Energie-Lieferanten zu stabilisieren, der Europa vor möglichen Notständen bewahrt. Andererseits baute sie zusammen mit den USA an einem "Korridor" von Europa über den Kaukasus bis China, der Moskau von den zentralasiatischen und kaukasischen Energiequellen isolieren soll, um sich so von Russland unabhängiger zu machen. In einer im März 2004 vorgelegten Studie des Öl-Gas-Konsortiums Interstate Oil and Gas Transport to Europa (INOGATE) heißt es zwar, dass man der "strategischen Partnerschaft mit Russland" den Vorzug vor der "imperialen Variante" gäbe - zugleich aber wird erklärt, man müsse unter Umständen der "imperialen Variante" folgen, sollten die USA durch ihre militärische Interventionspolitik globale Prioritäten setzen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich an diesem widersprüchlichen Verhältnis mit der Regierungsübernahme durch die große Koalition in Berlin irgendetwas geändert hat.
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