Die derzeitigen Unruhen in Moskau werfen eine Frage auf, die über die Ereignisse hinausführt: Welche Rolle spielt Russland bei der Ablösung des Liberalismus, sprich: des in die Krise gekommenen westlich dominierten Weltbildes? Wladimir Putins kürzlich gegenüber der Financial Times geäußerte Kritik an der „liberalen Idee“ und seine gleichzeitig verstärkte Hinwendung nach China haben einer kritischen Sicht auf Russland in dieser Frage reichlich Nahrung gegeben.
Eine genauere Betrachtung lässt indes eine andere, wenn auch paradoxe Perspektive erkennen. In ihr tritt Putin als Konservator ebendieser weltweit kriselnden liberalen Ordnung hervor, ja, er mahnt auf nationalen und internationalen Foren sogar deren Erhalt an. Mit Blick auf das Inland spiegelt sich das selbst im Gespräch mit der Financial Times, in dem er sich ungeachtet seiner generellen Kritik am Liberalismus für liberale Freiheiten auch in Russland ausspricht, wenn ihre Wahrnehmung nicht zum Schaden für die Gemeinschaft führe. Die Moskauer Proteste erscheinen vor diesem Hintergrund eher als hilfloses Aufbegehren gegen diese widersprüchliche Realität einer, vor allem von jungen Leuten als repressiv erlebten Toleranz im heutigen Moskau. Dieses Aufbegehren ist zwar berechtigt, verständlich und mutig, wird aber gesellschaftsverändernde Kraft erst entfalten können, wenn es die Grenzen, die dem Liberalismus heute allgemein und besonders im nachsowjetischen Russland gesetzt sind, erkennt und in seinen Protest einbezieht. Diese Feststellungen klingen gewagt, drängen sich aber bei einem über die aktuellen Vorkommnisse hinausgehenden Blick auf die nachsowjetischen Bedingungen, die global wie in Russland selbst heute wirken, als unabweisbar auf.
Liberale Ideen – genauer gesagt, Versprechungen des Liberalismus – tragen für die große Mehrheit der russischen Bevölkerung nach den Erfahrungen, die sie im Verlauf des Systemwandels mit dem Import westlicher Werte machen musste, nicht mehr. Zu tief war die geistige und soziale Erniedrigung, in die man sich gestürzt fand. Ideologen wie Alexander Dugin konnten ihre Botschaft verkünden, dass die drei großen „Ismen“ des vergangenen Jahrhunderts – nach dem Faschismus der Sozialismus und nach ihm auch der als vermeintlicher Sieger übrig gebliebene Liberalismus – auf den Müllhaufen der Geschichte gehörten. Sie müssten durch eine neue Idee einer „vierten Theorie“ ersetzt werden. Dabei bleibt diffus, wohin diese Theorie führen soll, wenn nicht einfach in die Restauration alter imperialer Herrlichkeit und eines kruden mystischen Nationalismus. Hinzu kommt, dass die liberalen Werte auch im Westen nicht mehr tragen, genauer, dass sie durch die tatsächliche Politik der herrschenden Eliten desavouiert sind. Man denke an die aggressive Außenpolitik, welche die westliche Allianz gegen ihre Rivalen in Russland, in China und in anderen Teilen der Welt um den Erhalt ihrer Vormachtstellung verfolgt. Man denke an die „populistischen“ Protestbewegungen und neuen nationalistischen Tendenzen in der EU, an den antiliberalen Siegeszug Donald Trumps in den USA und – auf hohem ideologischen Niveau – an den bemerkenswerten Medienhype um den israelischen Autor Yuval Noah Harari.
Dessen Kritik des Liberalismus folgt exakt dem gleichen Muster der Reihung Faschismus – Sozialismus – Liberalismus wie Alexander Dugins Botschaft vom Ende der bisherigen Geschichte. Hararis Arbeiten wurden in 40 Sprachen übersetzt. Dieses Echo spricht für sich, auch wenn sich Harari im Gegensatz zu Dugin einen erneuerten Liberalismus wünscht, irgendwie.
Bruder Trump
Die Kritik des Liberalismus in seiner abgewirtschafteten Form des globalisierten Neoliberalismus und einer imperialen Globalisierung ist keine russische Spezialität, sondern eine globale – mit Trump als Zertrümmerer dieser nachsowjetischen Globalordnung, mit China als strategisch aktivem Botschafter eines neuen Kollektivismus mit globalem Anspruch im Gegenzug. Beides ist der russischen Bevölkerung in ihrer jetzigen Verfassung gleichermaßen fremd. Revolutionäre Impulse, die diese Verhältnisse aufbrechen könnten, sind in Russland angesichts dessen revolutionsgesättigter Geschichte bis auf Weiteres nicht zu erwarten. Es sei denn, es geschähe ein Wunder von kosmischem Ausmaß.
In dieser Lage, also dem Zerfall der real existierenden globalen „liberalen“ Ordnung, spielt Wladimir Putin heute die Rolle des konservativen Bewahrers ebendieser Ordnung. Das galt zunächst innenpolitisch, indem er das Land einer autoritären Modernisierung ausgesetzt hat, die in ihren Grundzügen den Vorgaben des westlichen Neoliberalismus folgte. Auf der Grundlage einer Wiederherstellung russischer Staatlichkeit, die traditionellen russischen Zentralismus mit Elementen westlicher Verfassungsdemokratie zusammenführte, konnte sich Putin inzwischen in die Rolle des internationalen Krisenmanagers begeben, hinter dem sich die Kräfte sammeln, die sich durch den Verfall der US-Ordnung gefährdet sehen. Das unabweisliche Stichwort dazu ist Syrien, wo Putin als Anwalt des Völkerrechts der Interventionspolitik der USA erfolgreich entgegentrat.
Dies alles geschieht beim gegebenen Stand der Völkerbeziehungen, wie er durch die UN heute repräsentiert wird, das heißt, auf dem Stand des weiter vorherrschenden neoliberalen Dogmas der einheitlichen Nationalstaaten. Als Krisenmanager wurde Putin zum Puffer zwischen der Abrissbirne Trump und dem Erneuerer Xi Jinping und zum Anwalt des globalen Status quo. Diese Rolle ist nicht etwa willkürlichen Entscheidungen Putins zuzuschreiben, vielmehr beschreibt sie die historisch gewachsene Stellung, die das nachsowjetische Russland heute beim Übergang zu einem sich andeutenden chinesischen Zeitalter einnimmt. In dieser Rolle ist Putin gefangen, außenpolitisch und mit entsprechenden innenpolitischen Folgen. Dadurch entsteht eine innenpolitische Realität, in der sich neoliberale Modernisierungskampagnen und Konzessionen an die traditionellen Gemeinschaftsstrukturen des Vielvölker- und multireligiösen Landes, Zentralismus und pluralistische Autonomie, staatliche Übergriffe und Laissez-faire-Politik zu einem hybriden Konsens verbinden. Der überzieht das Land wie ein Kokon und ist letztlich leicht verletzbar.
Dabei geht es nicht nur um Putin. Ein Nachfolger – gleich ob Mann oder Frau – wird sich in der gleichen Rolle finden, will er oder sie in den genannten Widersprüchen dieses gewaltigen Landblocks nicht untergehen und zu Gewaltmaßnahmen gezwungen sein. Gefangen aber ist natürlich nicht nur Wladimir Putin, der auf der herrschenden nationalstaatlichen Völkerordnung besteht, obwohl er Präsident des größten Vielvölkerstaates der Welt ist, der ganz und gar nicht dem herrschenden Credo des einheitlichen Nationalstaates entspricht. Gefangen sind in ihrer Rolle auch Trump als Zertrümmerer und Xi Jinping als Erneuerer und stiller Nutznießer der herrschenden Ordnung, solange keine andere gefunden wurde, welche die abgenutzten Formen des Liberalismus ablösen könnte – so oder so.
Um nicht missverstanden zu werden: Hier kann nicht die Rede sein von einer Wiederherstellung eines russischen oder gar des sowjetischen Imperiums. Mit dessen Zusammenbruch und dem voranschreitenden Zerfall der „einzigen Weltmacht“, wie noch Zbigniew Brzeziński die US-Hegemonie skizzierte, ist die jetzt erreichte nachimperiale Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung unübersehbar. An die Stelle territorialer Herrschaftsorganisation, die durch permanente Eroberung entstand und militärisch gestützt wurde, tritt die gegenseitige ökonomische wie technische Durchdringung, wenn auch nicht ohne Konflikte. Ebendieses Prinzip findet heute mit der Expansion Chinas zu durchschlagender Kraft.
Dabei ist Russland wegen seiner hybriden Lage regelrecht dazu verurteilt, den eurasischen Raum als Organismus zu entwickeln, der anderen Regeln folgt als denen seiner östlichen und westlichen Gegenüber. Anders gesagt, die Widersprüchlichkeit der Putin’schen Politik, gerade wenn sie sich auf die Konservierung der bestehenden Verhältnisse verengt, erweist sich bei genauem Hinsehen als beste Voraussetzung, um Impulse hervorzubringen, die nach Selbstbestimmung und Autonomie verlangen, um nicht zu ersticken. Am Ende Putin’scher Stabilität kann sehr wohl ein eurasischer Pluralismus mit der Realität selbstverwalteter Regionen stehen. Föderalismus würde nicht mehr nur auf dem Papier erscheinen, sondern Alltag sein.
Anarchie als Chance
Denkbar ist, dass sich unter der bürokratischen Decke einer in Stagnation übergehenden Stabilität autonome Freiräume bilden. Ähnlich, wie sich zu Sowjetzeiten unter dem Druck der kollektiven Lebensorganisation abseits der Kollektive, aber unter dem kollektiven Dach – in Dörfern, Sowchosen, Kolchosen oder Großbetrieben – Freiräume nicht nur für skurrilste Individualitäten, sondern große Potenziale gestauter individueller Initiative herausbildeten. Es war nicht zuletzt der Druck dieser stagnierenden kollektivistischen Struktur, der die Freisetzung einer individuellen Initiative erzwang, die dann unter Michail Gorbatschow ihren Ausdruck fand.
Der viel geschmähte russische Anarchismus, die ewig andere Seite des russischen Zentralismus, macht es möglich. Wohlgemerkt möglich, nicht etwa zwingend erfolgreich. Bedingung ist, dass die anarchischen Strukturen Russlands als Kraft erkannt und nicht als Bedrohung bekämpft werden. Das gilt in Russland ebenso wie für die Haltung gegenüber Russland im Ausland. Gewaltsame Unterdrückung dieser Kraft im Inneren ist ebenso gefährlich wie deren Stimulierung von außen. Was Russlands Menschen nach dem Jahrhundertabsturz aus den Höhen der sozialistischen Utopie heute brauchen, sind Ruhe, Zeit zur Selbstbesinnung und für neue soziale Strukturen. Russland befindet sich in Rekonvaleszenz.
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