Der Graben zwischen Russland und dem Westen scheint tiefer als je zuvor seit Ende des Kalten Krieges. Man wolle den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) neu verhandeln oder aussteigen, erklärte Präsident Putin am 26. April in seiner letzten Rede an die Nation - eine Reaktion nicht zuletzt auf die geplante US-Raketenabwehr in Osteuropa. Aber nicht nur der KSE-, auch der INF-Vertrag über die atomaren Mittelstreckenraketen steht zur Disposition.
Als Russlands Präsident vor einer Woche seine achte Botschaft an die Nation richtete, galten die Akzente eher der Innenpolitik, den bevorstehenden Wahlen, dem weiteren Aufbau des Landes. Putin stellte klar, er halte die letzte Rede dieser Art, die nächste werde von einem anderen Staatschef kommen.
Für Aufregung außerhalb Russlands sorgt nun jener Passus, in dem eine Neuverhandlung des KSE-Vertrages über konventionelle Abrüstung erwogen wird. Postwendend ist von "Neuer Eiszeit" die Rede. "Putin droht dem Westen" titelt die Frankfurter Allgemeine. NATO wie EU-Spitzen drücken ihr "Bedauern" aus und fordern vom Kreml Erklärungen, was gemeint sei. Dabei braucht man Putin nur vollständig zu lesen, um das zu wissen: Russlands Präsident rief weder einen neuen Kalten Krieg aus, noch sprach er von Kündigung des KSE-Vertrages, sondern plädierte lediglich dafür, dessen völlig unzureichende Umsetzung möglichst bald im NATO-Russland-Rat zu behandeln. Erst für den Fall, dass derartige Gespräche ergebnislos blieben, legt Putin künftigen russischen Regierungen nahe, über eine einseitige Kündigung des Abkommens nachzudenken. So kann aus einem Vorschlag eine Forderung werden, aber keine Drohung.
Vergegenwärtigt man sich diese Option, erscheinen die Reaktionen von NATO und EU unverhältnismäßig: Der Vertrag sei zwischen NATO und Warschauer Pakt geschlossen worden, so Putin. Inzwischen existiere der Warschauer Pakt aber nicht mehr, dafür sei die NATO bis an die Grenzen Russlands vorgerückt. Russland habe die Bedingungen des Vertrages erfüllt und fast alle schweren Waffen aus dem europäischen Teil des Landes zurückgezogen. Einige der neuen NATO-Mitglieder wie Estland, Litauen, Lettland und die Slowakei hätten den Vertrag dagegen bis heute nicht unterzeichnet. Zudem müsse man die für Polen und Tschechien vorgesehenen US-Abfangraketen als "Element des strategischen Verteidigungssystems" der USA begreifen, das auf diese Weise erstmals in Europa stationiert werde. Aus all dem ergebe sich eine neue Sicherheitslage nicht nur für Russland, auch für Europa, die nicht allein in der NATO, sondern auch in der OSZE beraten werden müsse.
"Worüber wir sprechen", so Putin, "ist eine Kultur der internationalen Beziehungen, die auf internationalem Recht beruht - ohne Versuche, Entwicklungsmodelle aufzuzwingen oder den natürlichen Gang des historischen Prozesses zu forcieren. Das macht die Demokratisierung des internationalen Lebens und eine neue Ethik in den Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern besonders wichtig." Ähnlich hatte er sich schon Anfang des Jahres auf der Münchner Sicherheitskonferenz geäußert: Man müsse die von den USA betriebene Militarisierung der internationalen Beziehungen beenden und stattdessen in kooperative Abrüstungsgespräche eintreten, die eine Entmilitarisierung des Weltraums einschließen. Weshalb eine solche Position, die jetzt durch die ins Gespräch gebrachte Neufassung des KSE-Vertrages präzisiert worden ist, eine "Neue Eiszeit" heraufbeschwört, bleibt schleierhaft. Dies gilt um so mehr, als Putin nicht die Naivität eines politischen Phantasten beseelt, sondern vielmehr das Verständnis eines Realpolitikers handeln lässt. Er weiß um die globalen Kräfteverhältnisse und möchte andererseits nicht darauf verzichten, für Russland international Boden gut zu machen. Ohne Zweifel will er die "atlantischen Bindungen" lockern, weil es auf der Hand liegt: US-Raketen in Osteuropa zielen weniger auf einen Schutz Europas als vielmehr auf eine Störung der von den USA wenig geschätzten strategischen Beziehungen zwischen der EU und Russland.
Ob von daher Putins Auftritt, wie Alexander Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik meint, ein "strategischer Fehler" gewesen sei, der Angela Merkel in eine peinliche Lage bringe, nachdem sie erst versucht habe, die Beziehungen zu Russland weiter auszubauen, ohne sich in Konfrontation zur Bush-Administration zu begeben, darf man bezweifeln. Gerade das innenpolitische Fazit des scheidenden Staatschefs macht mehr als deutlich, dass Russland sich vom Westen nicht mehr gängeln lassen will und es auch nicht mehr muss (was der eigentliche Grund für die "westliche Beunruhigung" sein dürfte).
Putin zieht die Bilanz des erfolgreichen Restaurators: Das Realeinkommen der Bevölkerung habe sich verdoppelt, der Staatshaushalt versechsfacht, die Wirtschaft zeige kräftiges Wachstum. "Wir haben Geld", sagt Putin unumwunden. Es komme jetzt es nur darauf an, es richtig einzusetzen. Nicht allen jedoch gefalle diese Stabilität. Es häuften sich daher Versuche, im Interesse ausländischer Geldgeber in die russische Innenpolitik einzugreifen. Daher müsse die Auseinandersetzung mit dem Extremismus "unausweichlich verschärft" werden. Gemeint sind die Aktivitäten von Boris Beresowski und Garri Kasparow in der augenblicklichen Vorwahlsituation. Beresowski ruft von London aus zum gewaltsamen Sturz Putins auf, weil Wahlen, wie er meint, keinen Sinn ergäben. Er rühmt sich, die "Opposition" auf allen Ebenen - auch im Kreml - selbst zu finanzieren. Während Kasparow erklärt, der Machtwechsel müsse auf der Straße erkämpft werden, da durch Wahlen nichts zu ändern sei. Ob Gesetze gegen den Extremismus freilich geeignet sind, derartige Interventionen abzuwehren, sei dahin gestellt.
Putins Rede signalisiert, Russland sucht selbstbewusst seinen eigenen Weg - für eine Mehrheit der Kommentatoren und Beobachter im Westen ist das offenbar nicht hinnehmbar.
Ratifizieren oder neu verhandeln
Der KSE-Vertrag
Der russische Außenminister Lawrow hatte vor den NATO-Außenministern am 26. April in Oslo bereits klargestellt: Sein Land sei faktisch der einzige Unterzeichnerstaat, der den KSE-Vertrag derzeit einhalte. Es gäbe NATO-Mitglieder, die hätten sich auch siebeneinhalb Jahre nach ihrer Unterschrift noch zu keiner Ratifizierung durchringen können. Man befürchte, dass es bis auf weiteres so bleibt. "Wenn sich daran nichts ändert, werden wir den Vertrag ganz aufkündigen", so Lawrow.
Der KSE-Vertrag geht auf Verhandlungen zwischen den Militärblöcken NATO und Warschauer Pakt während des Kalten Krieges zurück, die 1973 in Wien begannen. Ursprünglich zielten sie darauf ab, das Ungleichgewicht konventioneller Streitkräfte abzubauen und Überraschungsangriffe unmöglich zu machen, doch wurde die angestrebte Ost-West-Parität nach der Selbstauflösung des östlichen Paktsystems im Jahr 1991 obsolet. Deshalb wurde der Vertrag den neuen Verhältnissen angepasst und weist nun die zulässigen Obergrenzen für einzelne Waffenarten den beteiligten Staaten direkt zu. Praktisch heißt das: Es wurden nationale und territoriale Limits eingeführt. Erstere legen fest, wie viel konventionelle Großwaffen (Panzer, Flugzeuge, Artilleriegeschütze) ein Staat im gesamten KSE-Gebiet vom Atlantik bis zum Ural aufstellen darf. Die territorialen Obergrenzen schreiben vor, wie viele solcher Waffen und Truppen auf dem Gebiet eines Staates lagern dürfen (Fremdverbände inklusive). Zudem gibt es Flankenlimits für den Norden und Süden.
Russland, die Ukraine und Weißrussland haben den Vertrag ratifiziert - die NATO hingegen zögert und verlangt den vorherigen Abzug russischer Einheiten aus Georgien und Moldawien. Offenkundig ein Vorwand, denn zahlenmäßig sind die dort stationierten Soldaten völlig irrelevant. Tatsächlich sind es auch vorrangig die USA, die auf einem solchen Rückzug als Vorbedingung bestehen und großzügig darüber hinwegsehen, dass sie ihre Militärpräsenz im ehemaligen Ostblock wie in einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion stetig ausweiten. Der Verdacht liegt also nahe, dass es der Bush-Administration gar nicht um den KSE-Vertrag, sondern den Ausbau strategischer Vorteile in russischen Anrainerregionen geht.
Wolfgang Kötter
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