Die Angst vor dem Rückfall

Russland Die russische Regierung will nach den Anschlägen von Moskau nicht zum Anti-Terror-Krieg der neunziger Jahre zurück, sondern die Modernisierung des Landes vorantreiben

Rache schwor Präsident Medwedjew bei der Trauerfeier für die Opfer der Anschläge in der Moskauer Metro und erklärte, sofort harte Schläge gegen den Terror führen zu wollen. Hat der erklärte Erneuerer, Reformer und Modernisierer ausgedient? Schlägt mit der Stunde der Exekutive auch die des resoluten Autokraten? „Der Krieg wird in ihre Städte kommen“, hatte Doku Umarow als selbst ernannter Prälat eines Kaukasus-Emirats noch im Februar versprochen. Nun also ist es soweit und der russische Staat vor die Frage gestellt: Auf die Eskalationsstrategie einlassen? Befürchtungen, dass es dazu kommt, sind angebracht, auch wenn Spontan-Umfragen auf Moskaus Straßen zeigen: Die Bevölkerung bricht entgegen allen Erwartungen nicht in Hasstiraden gegen Kaukasier aus. Zu stark scheint der Wunsch, statt in neue Kriege zu ziehen, nach Jahren der autoritären Restauration endlich in den Genuss von Reformen zu kommen, wie sie Medwedjew angekündigt hat. Sein Motto: Soziale Reformen durch „nationale Projekte“, Freiheit durch Selbstverwirklichung und so weiter. Zu wenig ist bisher geschehen.

Um so mehr erfährt– seit die Öl- und Gaspreise wieder anziehen – die Modernisierungsdebatte in Russland einen Schub. Ausgelöst durch den Präsidenten selbst, der Ende 2009 dazu überging, die „Primitivität“ der russischen Ökonomie zu beklagen und die EU aufzufordern, Russlands Abhängigkeit vom Rohstoffexport zu mindern. Auch beschleunigt Medwedjew die Militärreform und unterwirft die zur Selbstreinigung freigegebenen Instanzen Polizei und Innenbehörden einer „Schocktherapie“. Im März hat die Publikation eines inoffiziellen Modernisierungsprogramms durch das Institut für moderne Entwicklung – es gilt als unabhängig, steht aber dem Präsidenten sehr nahe – einmal mehr signalisiert, Russland will im 21. Jahrhundert ankommen. Nichts wäre da verhängnisvoller als eine Rückkehr zum Anti-Terror-Kampf der späten neunziger Jahre mit all den unangenehmen Begleiterscheinungen.

Es geht um den Sprung von der „Ressourcen-Gesellschaft“ zu einer "vollwertigen Urbanisierung in der industriellen Epoche“, wie es heißt. Alles andere bedeutet Rückstand. Den sich nicht leisten kann, wer Großmacht bleiben will. Freilich ist das Moskauer Denken bei allen aufmunternden Selbstbeschwörungen seit den letzten Tagen der KPdSU nicht wirklich vorangekommen. Im Osten nichts Neues. Aufhorchen ließ, als Igor Jürgens, Direktor des Institutes für moderne Entwicklung, Beamten und Mandatsträgern jüngst vorwarf, ihr Verhalten gegenüber Anordnungen des Präsidenten grenze an Sabotage, und Medwedjew seinerseits damit drohte, Blockaden ein Ende zu machen. Diese Vorgänge wecken in der Bevölkerung Hoffnung auf mehr, wie die Regionalwahlen vom März 2010 unmissverständlich zeigten, in denen die „Partei der Macht“ von gewohnten 60 auf bescheidenere 40 Prozent geworfen wurde. Solche Hoffnungen will sich niemand durch Überreaktionen gegenüber dem Gegner aus dem Kaukasus zerschlagen lassen, von dem klar ist, dass er von solchen Überreaktionen lebt. Man kann nur wünschen, dass sich Medwedjew von guten Leuten beraten lässt.


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