Es gebe eine „demografische Lücke“, ein „Loch in der Rentenkasse“ und nach der krisenhaften Transformationszeit zu wenig junge Menschen im Verhältnis zu einer alternden Bevölkerung, begründet Präsident Wladimir Putin die Pensionsreform. Ein späterer Renteneintritt sei unausweichlich. Um die Menschen zu beruhigen, verspricht er zugleich, dass die „Lgoti“, also die sozialen Vergünstigungen für Rentner, Bedürftige und Behinderte, erhalten bleiben. Beim Pro und Kontra werden gerade die unterschiedlichsten Berechnungen vorgetragen, was die Rentenkasse hergibt und was nicht, wie die Bevölkerungsstruktur sich entwickeln werde und so weiter. Das liberale Lager begrüßt die Reform als notwendigen Impuls, um das Land zu modernisieren. Man verweist auf die heute dank des medizinischen Fortschritts weltweit steigende Lebenserwartung, mit der nach den Krisenjahren auch die Russische Föderation rechnen könne.
Die konservativen und neosozialistischen Kritiker des Reformentwurfes, unterstützt von Massenprotesten landesweit, lehnen die Pläne als Angriff auf die Lebensgrundlage der Bevölkerung ab. Es gibt eine lagerübergreifende Koalition oppositioneller Parteien in der Duma, die Mitte vergangener Woche mit den Stimmen der Partei „Einiges Russland“ die Reform in zweiter Lesung verabschiedet hat. Danach hat der Föderationsrat entschieden und am 3. Oktober Wladimir Putin die Gesetzesnovelle unterschrieben und damit in Kraft gesetzt.
Eine besondere Stellung nimmt, wie immer, Korruptionsjäger Alexei Nawalny ein, der als „Liberaler“ gegen die von Liberalen entwickelte Reform ebenfalls zu Protesten aufruft. Es stellt sich die Frage, ob das Projekt tatsächlich durchsetzbar ist. Es wäre nicht der erste Reformansatz, der von der russischen Wirklichkeit geschluckt würde wie die Matrjoschka von der Matrjoschka.
Geheimlohn im Briefumschlag
Mit ihrem Vorstoß geht die Regierung in die zweite Runde des Abbaus aus Sowjetzeiten stammender Strukturen der sozialen Sicherung. Ein früherer Versuch, bei dem die Lgoti in antragsgebundene Geldzuwendungen überführt werden sollten, war 2005 am Widerstand von Rentnern und Studenten gescheitert. Damals hatte Putin eine Anhebung des Rentenalters ausdrücklich als mit ihm nicht machbar ausgeschlossen. Er erklärte am 27. Oktober 2005: „Solange ich Präsident bin, wird eine solche Entscheidung nicht fallen.“ Dmitri Medwedew gab in seiner Zeit als Staatschef 2012 die Zusage, dass eine Rentenreform auch ohne angehobenes Eintrittsalters möglich sei.
Die erste Phase eines fundamentalen Sozialabbaus im postsowjetischen Russland war die Zerschlagung der betriebsbasierten sozialen Sicherungsstrukturen durch die Schockprivatisierung in der ersten Hälfte der 1990er. Seinerzeit stürzte die große Mehrheit ins soziale Nichts, während eine Handvoll Krisengewinner das privatisierte Gemeinschaftseigentum an sich riss. Neue Strukturen, die das nach dem Muster westlicher Gesellschaften hätten auffangen können, wurden nur langsam und bis heute unvollkommen aufgebaut. Scharfe soziale Differenzierungen waren unausweichlich und betrafen sämtliche Strukturen, vom Gesundheitswesen über die Wohnungswirtschaft bis zur Kultur. Es entstand eine neue Zwei- beziehungsweise Dreiklassenwirklichkeit, gegliedert in Reiche und Privilegierte, neue, mehrheitlich städtische Mittelschichten und eine Bevölkerungsmehrheit, die auf den Resten der aus Sowjetzeiten übrig gebliebenen Versorgungsstrukturen sitzen blieb. Das gilt vor allem für das Leben in stadtfernen Regionen.
Die folgenreichste Veränderung ergab sich durch den Übergang von der sowjetischen betriebsbasierten, nach Plan betriebenen Arbeitsplatzverwaltung in einen offenen, sich selbst regulierenden Arbeitsmarkt, was zu dessen Teilung führte. Denn nur ein Teil der Löhne wird vertragsgemäß abgerechnet und bezahlt, ein zweiter Teil schwarz in stillschweigendem Einvernehmen zwischen Unternehmern und Beschäftigten „per Briefumschlag“ an sämtlichen Steuerpflichten und Sozialabgaben vorbei ausgehändigt. Das heißt, nur ein Teil der potenziell möglichen Abgaben fließt in die Rentenkasse. Diese Lücke ist durch die anderen beiden „Säulen“ der Rentenfinanzierung – die staatliche Grundrente sowie den freiwilligen privaten Beitrag – nicht zu schließen, zumal die Möglichkeit einer freiwilligen Zusatzversicherung trotz staatlicher Kofinanzierung, die zu jedem eingezahlten Rubel einen Rubel dazugibt, von der Bevölkerung nur wenig genutzt wird. Solange dieser schwarze Arbeitsmarkt und die damit einhergehende Hinterziehung von Sozialabgaben und Steuern durch die Unternehmer und neuen Oligarchen existiert, sind alle Angaben zum „Loch in der Rentenkasse“ ehrlich gesagt bodenlos. Mit Sicherheit ist ein angehobenes Rentenalter nicht dazu geeignet, dies zu ändern.
Welche Aussagekraft, bezogen auf die Reform, hat der Verweis auf die „demografische Lücke“? Tatsächlich befindet sich Russland in einer demografischen Klemme. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg zwischen 1994 und 2017 von 64,4 auf 72,4 Jahre. Dabei bleiben die Unterschiede zwischen Männern, die im Schnitt 66,5 Jahre alt werden, und Frauen mit einer Lebensaussicht auf 77 Jahre bestehen. Den geburtenschwachen Jahrgängen Anfang der 1990er Jahre steht damit im heutigen Arbeitsleben eine alternde Bevölkerung gegenüber. Präsident Putin macht ein Verhältnis von arbeitender Bevölkerung zu Rentenempfängern von 1,7:1 geltend – ein Problem für die Rentenkasse, das durch Gelder kompensiert werden muss. Die könnten selbst dann nicht aus den laufenden Beiträgen kommen, gäbe es keinen schwarzen Arbeitsmarkt. Gelder für eine solche Kompensation wären freilich vorhanden, wie Kritiker der Reform unmissverständlich anmerken. Es gäbe sie mit den 45 Milliarden Rubel des „nationalen Wohlstandsfonds“, mit dem Haushaltsplus von 18 Milliarden und den ausgelagerten Geldern großer Kapitalbesitzer, die zurückgeholt werden könnten, wäre der politische Wille vorhanden.
Bliebe die Modernisierung. Wird die Anhebung des Rentenalters damit begründet, stellt sich den arbeitenden Menschen eine einfache Frage: Warum sollen wir länger arbeiten, wenn sich die Produktivität der Arbeit erhöht, die bewirkt zu haben Putin für sich in Anspruch nimmt? Müsste nicht eine höhere Produktivität dazu führen, dass mehr Freizeit vorhanden ist, in der wir uns erholen, um die Familie kümmern, uns kulturell betätigen? Ganz zu schweigen von einem wachsenden Anteil am erwirtschafteten Wohlstand für alle, nicht nur für Privilegierte. Schließlich liefe ein späterer Renteneintritt angesichts der – verglichen mit Deutschland – niedrigen Lebenserwartung für viele darauf hinaus, dass sie nicht mehr oder kaum noch in den Genuss einer Pension kämen – und sei sie auch gering.
Eine solche Aussicht ist angesichts des Umstandes, dass sich auch mit geringerer Produktivität, aber bei anderer Umverteilung des aus den natürlichen Ressourcen resultierenden Volksvermögens erträglich leben ließe, nicht als erstrebenswert zu vermitteln. Dies gilt umso mehr, als die Menschen auf dem schwarzen Arbeitsmarkt Zusatzerträge zur jetzt bestehenden Rente ergattern können und sich in der Parallelökonomie der familiären Wirtschaft – der Datschenkultur – eine Zusatzversorgung organisieren und davon in Notzeiten zehren. Aufs Ganze gesehen ist die familiäre Zusatzwirtschaft ein volkswirtschaftlicher Puffer. Die Krisen auf dem Weg zum heutigen Russland – 1991/92, 1998/99, 2008 und 2015 – haben gezeigt, dass die Datschenkultur jederzeit als Nothilfe reaktivierbar ist. Ein höheres Renteneintrittsalter kommt insofern einem massiven Angriff auf diese Reserve gleich.
Info
Zum Weiterlesen: Kartoffeln haben wir immer: Überleben in Russland zwischen Supermarkt und Datscha, Kai Ehlers
Kommentare 4
danke für diesen realitäts-haltigen rußland-bericht
jenseits der putin-glorifizierung.
Ja – sachlich erscheint auch mir die Behandlung dieses Themas. Aber auch er behandelt nur die russische Variante jener ewigen Rentendiskussion, die auch Deutschland kennt, und bei der die entsprechenden Prediger davon ausgehen, Rente könne nur aus Arbeit generiert werden, statt hierfür die Rendite der Gesamtwirtschaft in Anspruch zu nehmen. Schließlich ist die gesamtwirtschaftliche Leistung eine Gemeinschaftsleistung, an der auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Anteil haben.
Der demographische Faktor dient einfach nur als Vorwand, einseitig die monetären Machthaber zu bedienen.
Danke für die sachliche Aufklärung.
Dazu: Ihre Scheinheiligkeiten, unsere Qualitätsmedien, berichten genüsslich über Proteste gegen Sozialabbau in Russland, der bei uns längst Staatsräson ist. Russland hat eben ein ähnlich neoliberal geprägtes Staatssystem wie wir, nur dass dieses Land als Konkurrent zur Weltmacht USA eben unser Feind sein muss. Sozialabbau und Aufrüstung sind Sche...e, egal von wem!
So lange Putin an der Macht ist, wird es nicht zu revolutionären Unruhen kommen. Dafür ist er beim einfachen Volk, und den von ihm gedeckten Oligarchen zu beliebt, und die Opposition einfach nur eine Lachnummer. Auch wenn in Deutschland durch die "Qualitäts"Medien immer versucht wird, ein anderes Bild zu vermitteln.
@bella welches Volkseigentum wollen Sie denn verstaatlichen. Anscheinend kennen Sie den Schrott nicht, der sich in Russland Fabrik nennt. Das Gesundheitssystem ist doch noch immer staatlich und, je weiter man von Moskau und St. Petersburg weg kommt, selbst ein Fall für die Intensivstation, die Bahn ist staatlich und fährt nur miese ein, genau wie der Staatsbetrieb Russische Post.
Verstaatlichung kann aber nur funktionieren, wenn diese Betriebe oder öffentlichen Einrichtungen nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen geführt werden. Das hat in Deutschland mit der Bundespost ja auch funktioniert.
Als ich vor vierzehn Jahren nach Russland kam. war gegenüber unserem Haus ein Supermarkt. Alle sechs Kassen waren ständig besetzt, An der Fleisch- Käse-, Fisch- und Obsttheke standen jeweils zwei Verkäuferinnen. Dazu noch drei Putzfrauen die den Laden ständig feucht hielten, zwei Wachmänner und noch Kräfte, die die Regale wieder auffüllten. Die Anzahl der Mitarbeiter entsprach alter sowjetischer/russischer Tradition, wonach es nur wichtig ist, das alle unterkommen und keiner auf der Strecke bleibt. Der Laden hat sich nur ein Jahr gehalten. Mittlerweile ist dort ein Spar, dessen Personalbestand mit dem unserer Discounter vergleichbar ist.
Außerdem waren es die Russen gewöhnt (und Putin hat ja 2005 selbst gesagt, das er daran nicht rütteln werde) spätestens mit 55 Jahren in Rente zu gehen., und dann mit einem Teilzeitjob bei freierer Zeitaeinteilung die Rente zu ergänzen, und sich und den Enkeln etwas Luxus zu gönnen. Und das stößt vielen sauer auf. Das jetzt diese Möglichkeit des Nebeneinkommens genommen wird.