Loch ohne Boden

Russland Auch die jetzt beschlossene Reform wird die Probleme der Rentenfinanzierung nicht befriedigend lösen können
Ausgabe 40/2018
Und Wladimir Putin schaut zu. Oder wird er das Rentendekret am Ende doch nicht unterschreiben?
Und Wladimir Putin schaut zu. Oder wird er das Rentendekret am Ende doch nicht unterschreiben?

Foto: Vasily Maximov/AFP/Getty Images

Es gebe eine „demografische Lücke“, ein „Loch in der Rentenkasse“ und nach der krisenhaften Transformationszeit zu wenig junge Menschen im Verhältnis zu einer alternden Bevölkerung, begründet Präsident Wladimir Putin die Pensionsreform. Ein späterer Renteneintritt sei unausweichlich. Um die Menschen zu beruhigen, verspricht er zugleich, dass die „Lgoti“, also die sozialen Vergünstigungen für Rentner, Bedürftige und Behinderte, erhalten bleiben. Beim Pro und Kontra werden gerade die unterschiedlichsten Berechnungen vorgetragen, was die Rentenkasse hergibt und was nicht, wie die Bevölkerungsstruktur sich entwickeln werde und so weiter. Das liberale Lager begrüßt die Reform als notwendigen Impuls, um das Land zu modernisieren. Man verweist auf die heute dank des medizinischen Fortschritts weltweit steigende Lebenserwartung, mit der nach den Krisenjahren auch die Russische Föderation rechnen könne.

Die konservativen und neosozialistischen Kritiker des Reformentwurfes, unterstützt von Massenprotesten landesweit, lehnen die Pläne als Angriff auf die Lebensgrundlage der Bevölkerung ab. Es gibt eine lagerübergreifende Koalition oppositioneller Parteien in der Duma, die Mitte vergangener Woche mit den Stimmen der Partei „Einiges Russland“ die Reform in zweiter Lesung verabschiedet hat. Danach hat der Föderationsrat entschieden und am 3. Oktober Wladimir Putin die Gesetzesnovelle unterschrieben und damit in Kraft gesetzt.

Eine besondere Stellung nimmt, wie immer, Korruptionsjäger Alexei Nawalny ein, der als „Liberaler“ gegen die von Liberalen entwickelte Reform ebenfalls zu Protesten aufruft. Es stellt sich die Frage, ob das Projekt tatsächlich durchsetzbar ist. Es wäre nicht der erste Reformansatz, der von der russischen Wirklichkeit geschluckt würde wie die Matrjoschka von der Matrjoschka.

Geheimlohn im Briefumschlag

Mit ihrem Vorstoß geht die Regierung in die zweite Runde des Abbaus aus Sowjetzeiten stammender Strukturen der sozialen Sicherung. Ein früherer Versuch, bei dem die Lgoti in antragsgebundene Geldzuwendungen überführt werden sollten, war 2005 am Widerstand von Rentnern und Studenten gescheitert. Damals hatte Putin eine Anhebung des Rentenalters ausdrücklich als mit ihm nicht machbar ausgeschlossen. Er erklärte am 27. Oktober 2005: „Solange ich Präsident bin, wird eine solche Entscheidung nicht fallen.“ Dmitri Medwedew gab in seiner Zeit als Staatschef 2012 die Zusage, dass eine Rentenreform auch ohne angehobenes Eintrittsalters möglich sei.

Die erste Phase eines fundamentalen Sozialabbaus im postsowjetischen Russland war die Zerschlagung der betriebsbasierten sozialen Sicherungsstrukturen durch die Schockprivatisierung in der ersten Hälfte der 1990er. Seinerzeit stürzte die große Mehrheit ins soziale Nichts, während eine Handvoll Krisengewinner das privatisierte Gemeinschaftseigentum an sich riss. Neue Strukturen, die das nach dem Muster westlicher Gesellschaften hätten auffangen können, wurden nur langsam und bis heute unvollkommen aufgebaut. Scharfe soziale Differenzierungen waren unausweichlich und betrafen sämtliche Strukturen, vom Gesundheitswesen über die Wohnungswirtschaft bis zur Kultur. Es entstand eine neue Zwei- beziehungsweise Dreiklassenwirklichkeit, gegliedert in Reiche und Privilegierte, neue, mehrheitlich städtische Mittelschichten und eine Bevölkerungsmehrheit, die auf den Resten der aus Sowjetzeiten übrig gebliebenen Versorgungsstrukturen sitzen blieb. Das gilt vor allem für das Leben in stadtfernen Regionen.

Die folgenreichste Veränderung ergab sich durch den Übergang von der sowjetischen betriebsbasierten, nach Plan betriebenen Arbeitsplatzverwaltung in einen offenen, sich selbst regulierenden Arbeitsmarkt, was zu dessen Teilung führte. Denn nur ein Teil der Löhne wird vertragsgemäß abgerechnet und bezahlt, ein zweiter Teil schwarz in stillschweigendem Einvernehmen zwischen Unternehmern und Beschäftigten „per Briefumschlag“ an sämtlichen Steuerpflichten und Sozialabgaben vorbei ausgehändigt. Das heißt, nur ein Teil der potenziell möglichen Abgaben fließt in die Rentenkasse. Diese Lücke ist durch die anderen beiden „Säulen“ der Rentenfinanzierung – die staatliche Grundrente sowie den freiwilligen privaten Beitrag – nicht zu schließen, zumal die Möglichkeit einer freiwilligen Zusatzversicherung trotz staatlicher Kofinanzierung, die zu jedem eingezahlten Rubel einen Rubel dazugibt, von der Bevölkerung nur wenig genutzt wird. Solange dieser schwarze Arbeitsmarkt und die damit einhergehende Hinterziehung von Sozialabgaben und Steuern durch die Unternehmer und neuen Oligarchen existiert, sind alle Angaben zum „Loch in der Rentenkasse“ ehrlich gesagt bodenlos. Mit Sicherheit ist ein angehobenes Rentenalter nicht dazu geeignet, dies zu ändern.

Welche Aussagekraft, bezogen auf die Reform, hat der Verweis auf die „demografische Lücke“? Tatsächlich befindet sich Russland in einer demografischen Klemme. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg zwischen 1994 und 2017 von 64,4 auf 72,4 Jahre. Dabei bleiben die Unterschiede zwischen Männern, die im Schnitt 66,5 Jahre alt werden, und Frauen mit einer Lebensaussicht auf 77 Jahre bestehen. Den geburtenschwachen Jahrgängen Anfang der 1990er Jahre steht damit im heutigen Arbeitsleben eine alternde Bevölkerung gegenüber. Präsident Putin macht ein Verhältnis von arbeitender Bevölkerung zu Rentenempfängern von 1,7:1 geltend – ein Problem für die Rentenkasse, das durch Gelder kompensiert werden muss. Die könnten selbst dann nicht aus den laufenden Beiträgen kommen, gäbe es keinen schwarzen Arbeitsmarkt. Gelder für eine solche Kompensation wären freilich vorhanden, wie Kritiker der Reform unmissverständlich anmerken. Es gäbe sie mit den 45 Milliarden Rubel des „nationalen Wohlstandsfonds“, mit dem Haushaltsplus von 18 Milliarden und den ausgelagerten Geldern großer Kapitalbesitzer, die zurückgeholt werden könnten, wäre der politische Wille vorhanden.

Bliebe die Modernisierung. Wird die Anhebung des Rentenalters damit begründet, stellt sich den arbeitenden Menschen eine einfache Frage: Warum sollen wir länger arbeiten, wenn sich die Produktivität der Arbeit erhöht, die bewirkt zu haben Putin für sich in Anspruch nimmt? Müsste nicht eine höhere Produktivität dazu führen, dass mehr Freizeit vorhanden ist, in der wir uns erholen, um die Familie kümmern, uns kulturell betätigen? Ganz zu schweigen von einem wachsenden Anteil am erwirtschafteten Wohlstand für alle, nicht nur für Privilegierte. Schließlich liefe ein späterer Renteneintritt angesichts der – verglichen mit Deutschland – niedrigen Lebenserwartung für viele darauf hinaus, dass sie nicht mehr oder kaum noch in den Genuss einer Pension kämen – und sei sie auch gering.

Eine solche Aussicht ist angesichts des Umstandes, dass sich auch mit geringerer Produktivität, aber bei anderer Umverteilung des aus den natürlichen Ressourcen resultierenden Volksvermögens erträglich leben ließe, nicht als erstrebenswert zu vermitteln. Dies gilt umso mehr, als die Menschen auf dem schwarzen Arbeitsmarkt Zusatzerträge zur jetzt bestehenden Rente ergattern können und sich in der Parallelökonomie der familiären Wirtschaft – der Datschenkultur – eine Zusatzversorgung organisieren und davon in Notzeiten zehren. Aufs Ganze gesehen ist die familiäre Zusatzwirtschaft ein volkswirtschaftlicher Puffer. Die Krisen auf dem Weg zum heutigen Russland – 1991/92, 1998/99, 2008 und 2015 – haben gezeigt, dass die Datschenkultur jederzeit als Nothilfe reaktivierbar ist. Ein höheres Renteneintrittsalter kommt insofern einem massiven Angriff auf diese Reserve gleich.

Info

Zum Weiterlesen: Kartoffeln haben wir immer: Überleben in Russland zwischen Supermarkt und Datscha, Kai Ehlers

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