„Wir haben uns verrechnet. Der Absturz geht wesentlich tiefer“, so Dmitri Medwedjew gerade in einem Interview. Man habe mit zwei Prozent Rückgang des Bruttosozialprodukts für 2009 gerechnet, nun werde ein Minus von 8,5 Prozent erwartet. Schon in den Wochen zuvor hatte der Präsident mehrfach seine Unzufriedenheit kundgetan. Er nannte Russland „rückständig und korrupt“, sprach von „erniedrigender Rohstoffabhängigkeit“, von einer Ökonomie, die Bedürfnisse des Menschen ignoriere wie zu Sowjetzeiten. Schuld daran sei „exzessive staatliche Präsenz“ in der Wirtschaft und der Umstand, dass die Unternehmer eher auf Wsjátkis (Schmiergelder) setzten, statt nach „talentierten Erfindern“ zu suchen. Offenbar gehöre es nicht zur russischen Tradition sich selbst zu verwirklichen. Auch der Regierungsapparat arbeite „schleppend“, etwa bei der Vergabe staatlicher Bürgschaften. Man sei „für eine Krise zu langsam“. Er rief seine Landsleute auf, gegen Korruption, Passivität und Trunkenheit anzugehen und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, statt auf den Staat zu warten. Natürlich solle man westliche Modelle nicht „mechanisch kopieren“ – „Konfrontation und Isolierung“ seien aber ebenfalls gefährlich.
So eine Philippika hat man in Russland lange nicht gehört. Bahnen sich Entzweiungen zwischen Medwedjew und Putin an? Schließlich gilt die Kritik an der Regierung indirekt dem Premier. Sind die Ermahnungen des Präsidenten Signale für eine neue Westöffnung?
Als Retter gefragt
Zwei Ansichten stehen sich dazu gegenüber, wie nicht zuletzt der September-Ausgabe (Nr. 187) der Russlandanalysenzu entnehmen ist. Einerseits werden „Russland „finanzielle Verwundbarkeiten“ attestiert, die sich aus Abhängigkeiten von Rohstoffexporten ergeben. Wegen versiegender Finanzströme innerhalb der russischen Wirtschaft, wird das Schreckgespenst einer „Demonetarisierung“ heraufbeschworen. Gleichzeitig wachsen die Auslandsinvestitionen (2000 bis 2007 um mehr als das Zehnfache) und russisches Kapital drängt auf den internationalen Finanzmarkt – eine Expansion, wie sie in vergleichbarer Weise derzeit nur China vorweisen kann. Anzumerken wäre: Aussagekräftige Statistiken zu diesem Trend werden dadurch verzerrt, dass ein Großteil der Investitionen im Ausland nicht direkt aus Russland kommt, sondern über Offshore-Zonen und Steueroasen abgewickelt wird. Grund dafür sind die bisherigen rigiden Versuche der EU, derartige Anlagen mit allen Mitteln zu unterbinden. Man denke an den Energiekonzern Gasprom, dessen Ambitionen, sich eine Verwertungskette in Europa aufzubauen unter den Stichworten Ostseepipeline oder Süd-Pipeline hinlänglich bekannt sind. Zu nennen sind weiter die Beteiligung der Oligarchen Oleg Deripaska beim deutschen Bauriesen Hochtief und von Rustam Aksenenko bei der Firma Escada. Alexej Morschadow ist mit einem Gesellschafteranteil von 15 Prozent bei TUI eingestiegen, ganz zu schweigen von der Sperbank, dem designierten Finanzier der Opel-Übernahme durch Magna. Auch wäre an das Engagement von Gasprom-Vorstandsmitglied Igor Jusofow bei der Wadan-Werft in Wismar zu erinnern. Schließlich gibt es den erfolgreichen Versuch der Regierung Putin, über das Projekt ROSNANO durch äußerst günstige Kreditangebote an ausländische Wissenschaftler und Unternehmensgründer modernste Nanotechnik ins Land zu holen.
So widersprüchlich dazu die Analysen ausländischer Beobachter sind, so widersprüchlich ist die Wahrnehmung in Russland selbst: Boris Kagarlitzki, im Westen bekannt als scharfsinniger Kopf der russischen Globalisierungsgegner, deutet die Auslandsinvestitionen als Ausverkauf des nationalen Reichtums. Russland sei gezwungen, mit seinem Kapital die westlichen Konzerne zu sanieren, nachdem die sich damit belastet hätten, durch Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer zwar die Produktion hochzutreiben, die globale Konsumkraft aber soweit zu senken, dass sie auf ihren Waren sitzen blieben. Russland setze seine durch den Rohstoffhandel angesparten Notgelder jetzt ein, um diese Konzerne zu retten, wenn es nicht selbst mit untergehen wolle. „Das ist gut für diesen Unternehmen, doch schlecht für Russlands Arbeiter, die in verrottenden Betrieben zurückbleiben, wo es nicht einmal mehr für Lohnzahlungen reicht.“
Von Parasiten befreien
Im russischen bísnes dagegen sieht man die Krise als Chance, sich international billig einzukaufen. „Bolschói Poker“, ein großes Spiel, gehe vor sich, wird mir erklärt, als ich in Moskau nach einem Urteil über die Geschäfte um Magna, Opel oder die Wadan-Werft frage. Darüber hinaus sorge die Krise dafür, die russische Wirtschaft von Parasiten zu reinigen, die nur verdienen wollten. Arbeit müsse nicht nur verwaltet, sie müsse getan werden.
Wer will gegen diese Logik etwas sagen? Sie ist so wahr wie die Sicht Kagarlítzkis wahr ist. Sie reflektiert die Verwundbarkeit Russlands ebenso seinen Status als internationaler Investor. Wo liegt der Fehler in diesem Bild? Was fehlt?
Bleiben wir einfach: Es fehlt jene Sphäre, die „nicht finanzieller Sektor“ genannt wird. Genau dort liegt der Schlüssel, um zu verstehen, wie die Krise auf Russland wirkt: bleiben Russlands natürliche Ressourcen eine Versicherungspolice von strategischem Wert. Zweitens ist der „nicht finanzielle Sektor“ – die berühmte Datschenkultur – mit einer Tradition gemeinschaftlicher wie individueller Selbstversorgung ein sozio-ökonomisches Polster, das bisher jede Krise abgefedert hat. Finanzflüsse bis hin zur Lohnzahlung können austrocknen, ohne dass irgendjemand gleich auf die Straße geht. Es müssten schon Fundamente dieser sozialen Kultur in Gefahr sein. Wer hielte es in Deutschland nur eine Sekunde für möglich, dass Opel im Interesse des Gesamtwerkes weiterarbeiten lässt und keinen Lohn mehr zahlt, wie das in Russland zuweilen geschieht? Erinnern wir uns an Pikaljéwo im Mai, als eine ganze Stadt ohne Einkommen war. Vor diesem Hintergrund wirken Medwedjews Warnungen wie eine Art Mimikry. Es fragt sich nur, wem sie gilt, dem Westen oder den eigenen Leuten? Diese Frage bleibt offen.
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