Mit dem Amtsantritt Wladimir Putins zum Jahrtausendwechsel stellte sich die Frage: Wohin geht Russland nach einem Jahrzehnt der rückhaltlosen Westwendung? Für den Westen war Putin eine Sphinx, die zwischen alter Macht und neuer Ordnung schillerte, neoliberaler Modernisierer und zugleich rückwärtsgewandter Stabilisierer. Auch im Land selbst war offen, wohin die Reise gehen sollte. Philosophen wie Igor Tschubajs, Bruder und zugleich erklärter Antagonist des in Russland übel beleumundeten Privatisierungsmanagers Anatoli Tschubajs, sahen Russland „wieder auf dem Weg zu sich selbst“.
Mich animierte die unentschiedene Situation seinerzeit zu dem Titel Aufbruch oder Umbruch, in dem ich versuchte, die von Putin ausgehende widersprüchliche Dynamik zu erfassen. Mit Jefim Berschin, Zeitkritiker, Autor und Poet, konnte ich tiefer in die Frage einsteigen, die sich aus der Einsicht ergab, dass Russland heute – zum wiederholten Male – zum globalen Entwicklungsland geworden ist. Und das nicht etwa im Sinne von Rückständigkeit, sondern des wirtschaftlichen, sozialen, ethischen und geistigen Umbruchs – ein Entwicklungsland neuen Typs. Zur Erinnerung: Im postsowjetischen Russland blieb kein Stein auf dem anderen, auch im mentalen Bereich nicht. Es gab keine Prioritäten, keine eindeutigen, keine einseitigen Orientierungen nach Westen oder nach Osten, zum „Kapitalismus“ oder (zurück) zum „Sozialismus“, zum Christentum oder zum Atheismus. Es wirbelte vielmehr alles durcheinander, in allen Bereichen. Wechselwirkung der Vielfalt pur! An dieser Konstellation hat sich ungeachtet aller Reformen, politischen Verwerfungen und auch neuen bürokratischen Verkrustungen bis heute nichts Wesentliches geändert. Insofern ist Russland ein Entwicklungsland besonderer Art: Im russischen Raum als Integrationsraum Eurasiens überschneiden und verändern sich die Einflüsse aus allen Ecken der Welt.
Ethischer Extremismus
Das formulierte interessanterweise auch Wladimir Putin, als er bei seinem Amtsantritt im Jahr 2000 erklärte, er wolle sich dafür einsetzen, Russland wieder zum Integrationsknoten Eurasiens zu machen, wie es seiner historisch gewachsenen Rolle entspreche. Die Form, die diese Entwicklung unter seiner Ägide annahm, ist zwar höchst unglücklich – eine Wiederauflage des Paternalismus von der Art der Selbstherrschaft –, tatsächlich jedoch ist gar keine andere Politik möglich als eben die der Erneuerung der Integrationskräfte Russlands. Das Ringen um neue Ziele, neue Kräfte, neue Methoden der Integration bestimmt das gesamte russische – genauer gesagt: russländische – Leben bis heute, also nicht nur das der slawischen Russen, sondern das der Völker- und Kulturgemeinschaft Russlands. Am tiefgreifendsten zeigt sich das bei Ethik, Moral und Religion. Ohne neue Ethik kann dieser Raum, können die Menschen nicht überleben.
In der chaotischen Vielfalt dieses Raumes liegt – wie stets deutlich wird, wenn man sich in Russland aufhält – die tiefe Begründung für den ethischen Extremismus, mit dem und in dem die russländische Bevölkerung lebt: Nur extreme Besinnung auf moralische Verbindlichkeiten kann den Menschen in diesem offenen Raum, der allen Zentralisierungs- und Isolierungsbemühungen zum Trotz immer wieder durch von außen kommende Einflüsse (jetzt die Globalisierung) chaotisiert wird, so etwas wie Halt, Sicherheit und Heimat geben.
Die Heimat ist deshalb auch nicht die schöne Landschaft oder dergleichen, sondern die russländische Kultur, was immer darunter verstanden wird. Das sind die Werte des Zusammenlebens, die Sprache, die Lieder – letztlich die Moralität von Gemeinschaft, weil in dieser Weite die Moral einer Gemeinschaft ein besonderes, schützenswertes Gut ist. Es existiert nicht einfach, sondern muss gegen die uferlose, grenzenlose Weite hergestellt und bewahrt werden. Einfach gesagt: Der europäische Mensch ist froh, einen Platz zu finden, an dem er allein sein kann – in Russland ist man froh, Gemeinschaft zu finden, die vor Allein- und Ausgesetztsein schützt.
Heute sind diese traditionellen moralischen Werte – durch die 70 Jahre des realen Sozialismus zugleich bewahrt und diskreditiert – wieder einmal fundamental in Frage gestellt. Ähnlich wie zu Zeiten des Mongolensturms oder Iwans IV. oder während der Revolutionsjahre Anfang des 20. Jahrhunderts. Wieder einmal muss Russland von Grund auf seine Moral des Überlebens zwischen den territorialen, ethnischen und geistigen Extremen neu definieren. In Maßen war das auch früher so – mit Folgen für die europäische wie asiatische Entwicklung.
Heute, angesichts des globalen Marktes und sich daraus ergebender Abhängigkeiten, kann es der Welt nicht gleichgültig sein, welche Seite der russischen Wirklichkeit auf sie einwirkt: die Brutalität der russischen Mafia oder die Kultur der russischen Gemeinschaftstraditionen oder – noch exponierter formuliert – die unsozialen oder die sozialen Impulse, die aus der Transformation, aus der Modernisierung der russischen Gemeinschaftsethik heute hervorgehen.
In Russland treffen derzeit Individualismus und Kollektivismus am härtesten und schroffsten aufeinander; werden neue Formen des Miteinanders von Einzelinteresse und Kollektivinteresse am extremsten ausprobiert, durchlitten, erfunden. Dies geschieht auf allen Ebenen der menschlichen Existenz, vom Kindergarten bis zum Lebensende, bis hin zu Vorstellungen vom Leben nach dem physischen Tod. In diesem Sinne ist Russland heute ein gewaltiges Feld schöpferischer Unruhe, in dem ein ethisches Vakuum entsteht.
Jefim Berschin spricht hier geradewegs von Religion, wobei er sich zugleich von bestehenden Glaubensgemeinschaften distanziert. Sein Credo: Gott im Menschen finden. Vom Judaismus über die historischen Glaubensgemeinschaften des Christentums und des Islam zum Ego des heutigen Menschen: Dies, meint er, sei Russlands historische Botschaft – ein großer Entwurf.
Ich wäre da vorsichtiger: Die Elemente einer Wissenschaft von der Transformation, die für mich aus dem Verlauf der vergangenen Jahrzehnte russischer Geschichte hervortreten – Krise der Pyramide als Gesellschaftsmodell, Erinnerung an das Labyrinth als Symbol lebendigen Wandels, Selbstorganisation in der Gemeinschaft –, öffnen zwar neue mentale Räume, die ohne Zweifel auch über Russland hinaus gültig sind, aber sie sind doch bisher nicht mehr als ein Gerüst, an dem neue Vorstellungen entstehen können. Eine neue Ethik ist das noch nicht.
Vor allem ist es kein Automatismus: Der Kurs Putins trieb Russlands Entwicklung auf eine problematische Bahn: Symptomatisch und richtungsweisend dafür war, wie er 2004 auf die Geiselnahme im nordossetischen Beslan reagierte. Dort fand der vom Tschetschenien-Krieg ausgehende Terror seinen vorläufigen Höhepunkt. „Wir waren schwach und Schwache werden geschlagen“, erklärte Putin damals und verlangte mehr Stärke durch größere nationale Einheit und – nicht zu vergessen – eine „organisierte Bürgergesellschaft“.
Wie die Maßnahmen zeigen, die Putin vor und nach Beslan einleitete, war damit offenbar keine Demokratie nach westlichem Vorbild, sondern etwas sehr Russisches gemeint – die Überwindung der nach dem Zerfall der UdSSR entstandenen neuen Smuta, der großen Unordnung, durch eine patriarchale Konsensgesellschaft.
Ungeordneter Pluralismus
Die Smuta ist der Zustand des ungeordneten Pluralismus zwischen Asien und Europa, in den Russland in seiner Geschichte immer wieder versunken ist, wenn die Zentralmacht verfiel. In dieser Polarität zwischen Anarchie und Zentralismus ist Russland gewachsen. Putin ist dafür angetreten, diese Polarität zu modernisieren, nachdem Gorbatschow sie gekündigt und Jelzin sie ins pluralistische Chaos überführt hatte.
Putins Stärke ist dabei Bedingung und Bremse zugleich: Bedingung, weil sie Investitionsanreize für ausländisches Kapital und eine gewisse innere Sicherheit schafft. Bremse, wo sie die Selbstversorgungskräfte der russischen Gesellschaft im Interesse dieser Sicherheit bekämpft und die Mehrheit der Bevölkerung damit in die Verweigerung gegenüber diesem Staat treibt, der ihren vitalen Lebensinteressen widerspricht. Das lässt den angestrebten nationalen Konsens zur leeren Geste verkommen. Wird etwa der Präventivkrieg gegen den internationalen Terror erklärt, verlangt das eine ideologische Aufrüstung, zu der die Mehrheit der russländischen Bevölkerung nicht motiviert ist – damals so wenig wie heute.
Im Ergebnis vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft in eine herrschende politische Klasse auf der einen und eine Parallelgesellschaft, die sich auf ihre traditionellen Selbstversorgungsmöglichkeiten zurückzieht, auf der anderen Seite. Putin steht noch immer vor der Wahl, diese Verweigerung zu akzeptieren oder mit Gewalt zu brechen. Sie zu akzeptieren, das heißt, den nicht abgesicherten Weg der Transformation fortzusetzen, dem Kapital die Symbiose mit einer agrarisch orientierten Selbstversorgung als Dauereinrichtung – und Perspektive – weiter zuzumuten. Damit zu brechen, hieße, einen Ausweg in neuen Fortschrittsillusionen und expansiven imperialen Abenteuern zu suchen. Diesen Weg ist Putin bisher nicht gegangen.
Welchen er künftig wählt, ist offen. Bisher versucht er, sich auf der Mitte zu halten. Solange Putin – oder ein Nachfolger – den Weg der Reformen geht, besteht die Chance, dass die Transformation des patriarchalen Fürsorgestaats allen Härten und Krisen zum Trotz nicht in die Katastrophe, sondern in eine Erneuerung der traditionellen Symbiose von Produktion und Selbstversorgung unter heutigen Bedingungen führt.
Damit könnte Russland eine Modernisierung vorantreiben, in der sich individuelle Initiative westlichen Zuschnitts und traditionelle Gemeinschaftsstrukturen zu einem neuen Verständnis der Selbstbestimmung des Einzelnen in der Gemeinschaft verbinden. Woraus sich auch Impulse für den Westen ergäben. Möglich ist dies aber nur, wenn Russland bei der Entwicklung seines Weges nicht isoliert und angefeindet, sondern in seinen exemplarischen Werten erkannt und gefördert wird.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.