Nunmehr 19 Monate im Amt hat Präsident Medwedjew Russland nicht in Demut dienen wollen, wie er das bei der Vereidigung am 7. Mai 2008 versprach, sondern auch mit klarem Erneuerungswillen. Eine neue Phase der Reformen wollte er anstoßen. Noch vor dem Präsidentenwechsel hatte Medwedjew ein Wachstum prophezeit, das die 2006/07 verbuchte Sieben-Prozent-Marke übersteigen und einer „Förderung der sozialen Sphäre“ dienen solle. Auf einem Wirtschaftsforum in Krasnojarsk gab er kurz nach der Amtsübernahme zu verstehen, als Präsident auf die „Vier großen I“ achten zu wollen – auf die Institute der Macht, auf Infrastruktur, Innovationen und Investitionen, ohne die Modernisierung undenkbar sei. Einen Abschied von jedweder Stagnation sollte es geben – ob im Wohnungsbau, in der Gesundheit oder Landwirtschaft. Wozu Vorgänger Putin bereits 2005 aufgerufen hatte, aber nicht weit kam.
Die drei Großen "K"
Medwedjew fand Gefallen an der Formel „Freiheit ist besser als Unfreiheit“. Gemeint sei „die Freiheit in allen Bereichen, von der persönlichen über die wirtschaftliche bis zur Freiheit der Selbstverwirklichung“. Dank solcher Axiome wurde er bald unter Verweis auf seine juristische Biografie als Liberaler oder Reformator gelobt. Seine Reden über Marktwirtschaft und Bürgerfreiheiten klangen „spektakulär in unseren Ohren“, erinnert sich der damalige Außenminister Steinmeier. Klaus Mangold, für den Ostausschuss der deutschen Wirtschaft in Moskau, sah in Medwedjews „Intensivierung des Modernisierung“ einen Schritt zur „zügigen Aufnahme Russlands in die WTO“. In der eigenen Presse fiel das Lob zwar verhaltener aus, doch war oft von nationalliberaler Ablösung des autoritären Putin-Kurses die Rede. Allein es blieb die Frage, was durchsetzbar sei. Von der gönnerhaften Beschreibung Medwedjews als „Liliput“ bis zum Bild vom „operativen Tandem“ (mit Putin) reichte die metaphorische Prophetie.
Was wirklich geschah, nannten Spötter die Ablösung der „vier großen I“ durch die „drei großen K“: Krieg, Krise und Korruption bestimmten das erste Jahr von Medwedjews Hausrecht im Kreml. Im Konflikt mit dem Georgien Saakaschwilis musste er im August 2008 den Warlord geben. Die kurz darauf einsetzende Weltfinanzkrise traf Russland empfindlich, weil die Einahmen aus dem Öl- und Gasexport bis Mitte 2009 um mehr als zwei Drittel schrumpften. Die Korruption nahm Ausmaße an, die Medwedjew zwangen, den Kampf dagegen als Chefsache zu betreiben.
Doch während im Westen erwartet wurde, Russland gehe in die Knie, und das Tandem Medwedjew/Putin falle auseinander, schlossen sich beide arbeitsteilig umso fester zusammen. Medwedjew gewann Vertrauen, indem er trotz Krise entbürokratisierte, zur Modernisierung ermutigte und den USA wie der NATO eine „neue europäische Sicherheitsarchitektur“ vorschlug. Manche Kommentatoren in Moskau sahen ihn als Anwalt einer „Perestroika II“, während Wladimir Putin den Mann fürs Grobe gab. Zu besichtigen war das unter anderem im Mai 2009, als die Einwohner der Stadt Pikaljewo durch verbarrikadierte Überlandstraßen darauf aufmerksam machten, dass der Oligarch Deripaska drauf und dran war, sie durch verweigerte Lohnzahlungen glattweg auszuhungern. Putin verdonnerte den Mega-Unternehmer vor laufenden Kameras dazu, die Produktion eines Zementwerkes wieder aufzunehmen und seinen sozialen Verpflichtungen nachzukommen.
Balance und Rhythmus
Medwedjews Mahnungen, die Modernisierung werden verschleppt, sind unter diesen Umständen nicht das im Westen vielfach unterstellte Indiz für ein Zerwürfnis zwischen Kreml und Weißem Haus, der Residenz des russischen Premiers in Moskau. Auf dem Kongress der Partei Einheitliches Russland stimmte Wladimir Putin den präsidialen Appellen ausdrücklich zu.
Dmitri Medwedjew fühlt sich – allen Vorlieben für westliche Kultur zum Trotz – der russischen Tradition verpflichtet, Wirtschaft wie Gesellschaft von oben zu lenken und die Oligarchen aufzufordern, soziale Verantwortung wahrzunehmen. Hierin unterscheidet er sich nicht im Geringsten von Putin. Was durch beider Patriarchat entstehen könnte, nennen Moskauer Soziologen bereits einen „sozial orientierten russischen Oligarchismus“, der durch staatliche Autorität evaluiert und kontrolliert werde.
Anzumerken bleibt, dem Versuch Barack Obamas, Europa bis zum Ural zu umarmen, um so das atlantische Bündnis zu erneuern, begegnet Medwedjew souverän und erkennbar diplomatischer als Putin, ohne dabei russische Interessen aufzugeben. Im Gegenteil, mit der gerade geleisteten Unterschrift Frankreichs unter das Gasprom-Projekt der South-Stream-Pipeline ist das Konkurrenz-Projekt Nabucco, wie es die EU favorisiert, de facto gescheitert.
Überdies gewinnt Medwedjew mit der neuen Zollunion zwischen Kasachstan, Belarus und Russland an außenwirtschaftlichem Spielraum. Und wenn er dann noch den neuen START-Vertrag mit den USA unterschreibt, hat dieser Präsident auch außenpolitisch soweit an Statur gewonnen, wie das von der Verfassung gefordert ist. Es gibt vorerst keinen Grund für das Tandem Medwedjew/Putin, an Kräftebalance und Rhythmus zu feilen – es sei denn, 2010 sucht die Wirtschaftskrise Russland stärker heim, als vorhersehbar ist.
s. auch Kai Ehlers: Kartoffeln haben wir immer Überleben zwischen Supermarkt und Datscha. Horlemann Verlag
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