Szenen eines Staatsanarchisten

Nachruf Zum Tod von Boris Jelzin

Er war zuletzt im Schatten seines Nachfolgers verschwunden, öffentliche Auftritte mied er seit Jahren, die russischen Medien blendeten ihn aus. Und manchen seiner Landsleute galt Boris Jelzin längst nicht mehr als Held der demokratischen Revolution von 1990/91, sondern als Inbegriff des Chaos danach, das man lieber vergessen möchte.

Wenn irgendjemand das russische Sprichwort "Der Muschik spannt lange an, aber wenn er losfährt, fährt er rasant", in den vergangenen Jahrzehnten in Moskau verkörpert hat, dann wohl Boris Jelzin. Auf ihn trifft auch die Fortsetzung dieses Sinnspruches zu, die oft vergessen wird, aber gerade verstehen lässt, warum auch viele jenseits der russischen Grenze, den "Bären Jelzin" als "typischen Russen" empfanden. Dieser Zusatz lautet: "Und wenn er dann rast, ist es ihm gleich wohin - Hauptsache es bewegt sich."

In seiner Jugend steigt Jelzin vom Bauernjungen aus Butka bei Swerdlowsk zum Baulöwen der Region auf, er tritt 1961 in die Kommunistische Partei ein, kann sich unter Leonid Breschnew als KPdSU-Bezirkssekretär etablieren. Aber erst nachdem ihn Michail Gorbatschow 1985 aus der Provinz an die Spitze des Stadtparteikomitees von Moskau holt, legt der damals 54-Jährige richtig los.

Schon ein Jahr später, auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU, setzt Jelzin erstmals dazu an, den vorsichtigen Reformer Gorbatschow zu überholen. 1990 hat er seinen Gönner, der seinen Umsturzeifer bremst, bereits hinter sich gelassen. Als Präsident der sowjetischen Teilrepublik Russland gibt er demonstrativ seinen Austritt aus der Partei bekannt. Kurz darauf schafft er sämtliche Privilegien für Führungskader in seinem Machtbereich ab.

Ein letzter Versuch Gorbatschows, Jelzin durch einen gemeinsamen Reformplan für ein behutsames Tempo der Veränderungen zu gewinnen, scheitert gleichfalls 1990, als Jelzin für den sofortigen Vollzug eines "100 Tage-Programms" plädiert. Statt mit Gorbatschow einen Kompromiss zu suchen, lässt er sich mit dieser Vorlage nach Harvard einladen, um dort Bestätigung und Beistand zu finden, während Gorbatschow in London bei den G 7-Staaten vergeblich um finanzielle Hilfe für seine Reformstrategie wirbt.

Damit ist der Bruch zwischen beiden besiegelt. Der Machtverfall Gorbatschows, Ende August 1991 durch den Putschversuch mehrere Politbüro-Mitglieder um den damaligen Vizepräsidenten Janajew beschleunigt, wird unaufhaltsam. Jelzin präsentiert sich mit Aufrufen zu forcierten Reformen und mit Parolen an die Adresse der Teilrepubliken wie "Nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr braucht!", womit die Sowjetunion statt einen neuen Unionsvertrag zu erhalten, der im Sommer 1991 bereits vorliegt, dem Untergang geweiht ist.

Im Dezember 1991 hat Gorbatschow als Präsident des untergehenden Staatswesens ausgedient, und Boris Jelzin verkündet als Staatschef der Russischen Förderation eine "Schocktherapie" als Regierungsprogramm, das einem großen Teil der Bevölkerung sozialen Abstieg beschert und eine Schattenregierung aus IWF, Weltbank und russischen Privatisierungsgewinnlern entstehen lässt.

Hoch ist Boris Jelzin bei aller Überstürztheit anzurechnen, dass es einen Übergang ohne Blutvergießen und Säuberungen gibt. Dieses Verdienst wird auch durch den insgesamt chaotischen Verlauf seiner Reformpolitik nicht geschmälert. Blut wird erst vergossen, als Jelzin die von ihm gerufenen Geister der Anarchie wieder einzuhegen sucht: So werden im Oktober 1993 Panzer gegen das Parlament eingesetzt, marschieren Ende 1994 auf Befehl Jelzins russische Truppen in der abtrünnigen Kaukasusrepublik Tschetschenien ein, darüber hinaus gibt es immer wieder bewaffnete Konflikte in Randgebieten wie Moldawien, Abchasien, Südossetien.

Als äußerst geschickt werden seine Landsleute den letzten politischen Schachzug Jelzins Ende 1999 in Erinnerung behalten: Die Platzierung eines völlig unbekannten Mannes namens Putin im Zentrum der Macht, von dem er sich und seiner "Familie", dem Hofstaat von Verwandten, Ratgebern und reich gewordenen Günstlingen, lebenslange Immunität zusichern ließ. Dies war gleichbedeutend mit einer Legalitätserklärung für die Profiteure der ersten Privatisierungswelle und damit der Einstieg in eine Phase relativer Stabilität.


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