Im März wurde Wladimir Putin mit großer Mehrheit als Präsident bestätigt. In der Duma war zuvor die kommunistische Opposition um die Hälfte geschrumpft und die radikal-liberale JABLOKO an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. In einer Rede an die Nation stellte Putin nach der Wahl eine Ära der Stabilität, des wirtschaftlichen Aufbruchs und der sozialen Reformen in Aussicht, um das individuelle Bruttoeinkommen bis 2010 zu verdoppeln. Wohin treibt Russland im Sog dieser autoritären Modernisierung? Gibt es Alternativen? Stürzt der Terror das Land in eine Art Kriegszustand? Was bedeuten Putins Zielmarken für den Westen?
Um dem nachzugehen, reiste Kai Ehlers einen Sommer lang durch Russland, um alte Freunde und neue Bekannte zu treffen und eine Bestandaufnahme vorzunehmen: Russland im 13. Jahr nach dem Ende der Sowjetunion. Wir veröffentlichen Auszüge seines Tagebuchs.
Montag, 28. Juni 2004
Tschubais Tschubais
Der erste Tag beginnt mit Telefonaten, die alle zu Verabredungen führen. Grundstimmung: Große Gesprächsbereitschaft, geradezu Bedarf. Als ersten treffe ich Igor Tschubais, den Bruder des berühmten Anatoli Tschubais. Als Tschubais Tschubais sind beide ein für Russland typisches Paar: Igor, der Philosoph, will die "russische Idee" auf der Suche nach einem eigenen russischen Weg erneuern. Der andere war Privatisierungsminister, ist heute Chef des Energiekonzern RAOUES und setzt bedingungslos auf Modernisierung nach westlichem Muster. Ihr Verhältnis sei nicht das beste, meint Igor, aber aus "familiär-ethischen Gründen", werde er nichts Schlechtes über seinen Bruder sagen.
Igor sieht Russland auf der schiefen autoritären Bahn. Einen Ausweg gäbe es im Kooperativen, in der gegenseitigen Unterstützung kleiner Einheiten. Die Kirche könne dabei helfen, da sie keine staatliche Struktur sei. Aber die Idee des Informellen, einer vom Überlebensinteresse diktierten Selbstversorgung, bei der aus kurzatmigen Notlösungen langfristige Alternativen werden, ist ihm bisher fremd. Ein anderer Gedanke irritiert mich: "Absolute Demokratie", meint Igor, sei nur dann tatsächlich nötig, wenn es darum gehe, einen Totalitarismus zu bekämpfen. Sei der aufgelöst, gäbe es keine Notwendigkeit mehr für Demokratie - die sei vielmehr gefährlich. Als Beleg dafür dient ihm der jetzt "zur Schau gestellte Homosexualismus". Er sagt das und versichert mir zugleich, dass er nichts gegen Homosexualität habe.
Bei Igors Formulierung von der "absoluten Demokratie" taucht wieder auf, was mir schon zu Hause beim Studium von Analysen des Ostwissenschaftlichen Instituts in Bremen auffiel: der falsche bis sinnwidrige Gebrauch der Worte Liberalismus, Demokratie und Individualismus im öffentlichen Diskurs Russlands - Demokratie wird gern als "Dermokratie" diskreditiert, ein populäres Schimpfwort, das in den Jahren der Radikalreformen nach 1991 entstanden ist.
Zu ergänzen wäre: Igor Tschubais empfing mich in seiner neuen Wohnung, die er perfekt nach neu-russischem Geschmack inszeniert hat - alles vom Feinsten und die drei Räume in den Farben der Russischen Föderation gehalten: Rot, weiß, blau. Er ist darauf ebenso stolz, wie ich das bei Lonja und Lolja erlebt habe, langjährige Freunde von mir, die ihre kleine Wohnung in der Chruschtschowka ähnlich ausstaffiert haben. Einziges Problem: Die neuen Mietgesetze! Menschen, die wie sie ihre Altbau-Wohnung mit großem Geld herrichten, müssen damit rechnen, irgendwann vor die Tür gesetzt zu werden. Mit dieser Unsicherheit leben sie, selbst nachdem die Wohnungen privatisiert wurden. Leben in Russland ist noch immer unberechenbar.
Dienstag, 29. Juni 2004
Nur mit dem Herzen
Am Morgen bin ich zu meinem langjährigen Freund, dem Schriftsteller Jefim Berschin, an die Peripherie Moskaus gefahren. Er lebt dort mit seiner neuen jungen Frau Nadeschda (zu deutsch: Hoffnung) in fremder Wohnung und scheint etwas orientierungslos, auch pessimistischer als früher. Andererseits ist Nadeschda schwanger und das ist - jedenfalls von ihr aus - gewollt.
Wohin geht Russland? frage ich Jefim. Er meint: Keiner wisse das, Russland gehe seinen eigenen Weg, soll heißen, die Dinge entwickelten sich irgendwie spontan, ohne Ziel. Wer kenne schon das russische Volk. Da schimmert die zuweilen kolportierte These durch - Russland könne man mit dem Verstand nicht erfassen. Nur mit dem Herzen. Eine Auffassung, zu der ich mich trotz, ja gerade wegen aller Liebe zu diesem Land und den aufregenden Veränderungen im russisch-euroasiatischen Raum nicht durchringen kann. Man kann Russland sehr wohl auch mit dem Verstand begreifen, denke ich, wenn man das Herz nicht vergisst.
Auf meine Nachfragen hin formuliert Jefim drei aufschlussreiche Thesen: Zwischen Staat und Gesellschaft gebe es heute - im Gegensatz zur Sowjetzeit - keine Rückkoppelung mehr. Die zweite: in der russischen Gesellschaft gebe es spezielle Strukturen des Überlebens, die ein genaueres Studium verdienten. Und die dritte - durch Nadeschda ins Gespräch gebracht, die eine Zeitlang im Kloster gelebt hat - die speziellen Überlebensstrukturen Russlands seien vielleicht am besten im Kloster zu erkennen, wo das "Haben müssen" beim Zusammenspiel von Selbstversorgung und Teilhabe am Produktions- und Geldkreislauf am effektivsten reduziert werden könne.
Da ist sie wieder, die Symbiose von Selbstversorgung und Produktion, die häufig als Antwort auf die Krise der Industriegesellschaft erscheint. Diesmal in einer Variante, mit der ich nicht gerechnet hatte. Wohin führt das? Zurück ins Mittelalter? Zu neuen Formen des Zusammenlebens? Jenseits des urbanen Industrie-Kults?
Später treffe ich Boris Kagarlitzki, ein unabhängiger Linker, der mehrere auch im Westen verlegte Bücher über die Perestroika und die Transformation geschrieben hat. Boris arbeitet in neuer Funktion, als Direktor des Instituts für Globalisierung mit einem Etat von 20.000 Dollar im Monat. Das heißt - er bezieht zur Zeit ein festes Gehalt. Sein Gönner ist Alexej Petrowitsch, ein "linker" Geschäftsmann; auch die Friedrich Ebert-Stiftung und die Rosa Luxemburg-Stiftung fördern ihn. Wie stets klingt er optimistisch. Augenblicklich rührt seine Zuversicht aus dem Ende der Liberalen, das für die Linke neue Spielräume eröffne. Außerdem biete die anti-soziale Politik der Regierung der Linken reichlich Ansatzpunkte. "Wir sind keine Randfiguren mehr."
Donnerstag, 1. Juli 2004
Sozialer Genozid
Obwohl oder gerade weil die politische Sommerpause begonnen hat, soll die Duma schnell über ein Reformpaket abstimmen, das den Russen schmerzhafte Einschnitte aufbürdet. Das "Miting", an dem ich teilnehme, findet unter der Losung statt: "Schluss mit dem sozialen Genozid der Regierung. Nieder mit der unsozialen Regierung. Nieder mit Putin!"
Bis 2010 will Putin die Armut beseitigt haben - klar, das schafft er, höhnen die Demonstranten, bis dahin seien die Armen selbst tot. Zum "Miting" gerufen hat die Gewerkschaft Saschita, Hauptakteur ist Oleg Scheinis. Auch Alexander Busgalin (*) steht auf der Bühne. Seine Frau Ludmilla Belawka hält leider eine sehr kopflastige, dozierende Rede. Was Scheinis sagt, klingt dagegen sachlich und kommt ohne den üblichen patriotischen Schmelz aus. Nicht mehr der hausbackene alt-kommunistische oder neo-stalinistische Ton, wiewohl nach wie vor manch Heroisches durchklingt.
Bemerkenswert der Auftritt von Sergej Glasjew, des einzigen Duma-Abgeordneten, der die Sammlungsbewegung Rodina, eine Abspaltung von der KP, als alternative Kraft ins Spiel bringt. Trotz der drastischen Rhetorik von "Genozid" und "Diktator Putin" lässt sich auf dem Platz kein Milizionär sehen.
Aber worum geht es eigentlich? Die Duma soll ein Gesetz beschließen, nach dem das System der Vergünstigungen (Lgoti) durch finanzielle Kompensationen abgelöst wird. Das Herzstück einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die mit der zweiten Welle der Privatisierung nunmehr anlaufen. Im Gegensatz zu Putins Erklärungen! Meine Vermutung, dass nach der Präsidentenwahl die soziale Frage im Vordergrund steht, trifft offenbar zu. Allerdings scheinen Putin und die von ihm abhängige Regierung nicht endlich den sozialen Notwendigkeiten nachkommen zu wollen, wie das angekündigt war. Sie ziehen viel mehr genau das wirtschaftsliberale Programm durch, für das die Liberalen bei der Duma-Wahl im Dezember abgestraft wurden. Wie kann Putin so töricht sein, offen gegen die Bevölkerungsmehrheit Politik zu machen? In meinen bisherigen Gesprächen hieß es, die jetzt in Russland herrschende Schicht habe "keine Angst". Es gebe keinen Dialog - das Volk schweige. Die politische Bewegung der Perestroika-Jahre sei eingemeindet und der Liberalismus als Feind abgestraft. Putin könne ihn völlig ungestört kritisieren und zugleich dessen Programm übernehmen. Eine andere Erklärung streift die Legende vom "guten Präsidenten" und seinem "schlechten Umgang", von Putins vergeblichem Kampf gegen oligarchische Windmühlen. Die dritte Version steuert die "Traditionslinke" aus den Gewerkschaften bei, die den "starken Staat" des Präsidenten für nötig und unausweichlich hält, aber dessen soziale Härten ablehnt, ohne Alternativen zu haben.
Kurz: Wie Putins Politik beurteilt wird, hängt davon ab, was man vom Staat erwartet - und hier gehen die Vorstellungen weit auseinander: Die einen wollen Selbstorganisation ohne Staat, die gewerkschaftliche Linke will Stabilität durch den Staat, Boris Kagarlitzki will nicht diesen, sondern einen anderen Staat.
Noch einmal zum "Miting": Aufgerufen hatte ein spontanes Bündnis anarchistischer, linker, liberaler und nationaler Kräfte - von Memorial (**) über die Theoriezeitschrift Alternative bis zu Rodina. Erstmals ein Bündnis des sozialen Widerstandes, aber eben nur ein Moskauer Bündnis und eines "von oben", das heißt, von den Spitzen der Organisationen aus. Die Sache wird schwierig, weil andere Regionen den Moskauern durchaus gönnen, dass ihre hohen Vergünstigungen gestrichen werden, mit denen man auf dem flachen Lande wenig anfangen kann, etwa kostenlose Fahrten mit Metro oder Bus.
Montag, 5. Juli 2004
Sowjet-Fossilien
Der Morgen begann ein wenig chaotisch - ich verspäte mich und muss Madame Kusnezowa anrufen, aber die bleibt gelassen: Kein Problem, dann eben eine Stunde später.
Ort unserer Begegnung ist das "Institut für Wirtschaft", einer der herunter gewirtschafteten Plattenbau-Kästen der Akademie der Wissenschaften: Vermooste Außenwände, stockende Fahrstühle, Uhren mit vergilbten Zifferblättern in den Gängen, die verschiedene Zeiten anzeigen. Das Gebäude wurde erst zu Beginn der Perestroika 1985/86 gebaut und hat bessere Tage gesehen. Es war die Hochburg der frühen Perestroika-Intelligentia, später verschlug es in den frühen Neunzigern all jene hierher, die kompetente Auskunft über den Gang der Reformen suchten. Jetzt ist die Missachtung der neuen Oligarchie mit Händen zu greifen - mehr als nur ein Hauch von Sowjet-Fossilien liegt in der Luft.
Tamara Kusnezowa treffe ich immerhin in einer frisch renovierten Etage an, wo sie in einer schmalen Wabe am Computer sitzt. Der Raum ist so eng, dass man sich gerade noch an dem längs stehenden Schreibtisch entlang drücken kann. Um die 60 wird sie sein, schätze ich. Kusnezowas Arbeitsgebiet ist das Kooperativwesen. Bei meinen Fragen muss sie anfangs immer wieder zu Erkenntnissen aus ihrem persönlichen Umfeld Zuflucht nehmen - weil sonst "keine Daten darüber zur Verfügung stehen". Ihr Urteil ist erschreckend: unter den Wissenschaftlern gäbe es keine Solidarität mehr, keine Informationen. Keine zweigeteilte - wie mir das bisherige Gesprächspartner vermittelten -, sondern eine dreigeteilte Welt schlägt mir hier entgegen: Regierung, Bevölkerung - und als Drittes die wissenschaftliche Intelligentia. Letztere lebt in einer Welt für sich und wartet auf Forschungsaufträge einer westlichen Stiftung, deren Sponsoring man sich ergattern konnte. Früher nannte man so etwas Leben im Elfenbeinturm; davon ist nur noch der Turm geblieben.
Kusnezowa zeichnet ein solch finsteres Bild, dass ich am Ende frage, ob nicht auch in diesem Fall wie in allem Schlechten etwas Gutes liege. Da legt sie plötzlich los: Sie habe trotz allem Hoffnung, das Land sei reich, die Menschen klug - wenn man sie nur ließe. Russland verfüge über beste Chancen des Überlebens - die seien keineswegs nur seelisch begründet, sondern auch materiell. "Auch wenn es uns schlecht geht, haben wir doch die Gewissheit, dass es von allem immer noch viel gibt - viel Land, viel Ressourcen - viel Menschen, viel Zeit ..."
Das Bewusstsein, über alles im Überfluss zu verfügen, ist offenbar tief verwurzelt. Von allem gibt es mehr als genug - die materielle Basis der russischen Selbstgenügsamkeit. Kein Grund also für kapitalistischen Stress?
(*) Busgalin ist Professor der Ökonomie an der Moskauer Staatlichen Universität.
(**) Menschenrechtsorganisation zur Aufarbeitung des Stalinismus.
Die Gesamtfassung des Tagebuchs ist für den Preis von zehn Euro direkt über den Autor info@kai-ehlers.de zu beziehen.
(wird fortgesetzt)
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