"Fürchtet Russland", titelt die Financial Times Deutschland (FTD). "Ein Gespenst geht um in Europa: Die Russen kommen", verkündete die Welt. Von Rachelust russischer Agenten wird gesprochen, und der grüne Europa-Abgeordnete Cohn-Bendit stuft die Moskauer Regierung im rhetorischen Handstreich als "terroristisches Regime" ein.
Ein Chor der Warner, wohin das Auge schaut. Sie alle verbindet eines: Die Sorge vor einer weiteren Amtszeit Wladimir Putins, der - so die FTD - Russland "zu einem autoritären Land ... mit faschistischen Tendenzen" gemacht habe: Repression nach innen und Aggression nach außen! Warum wird dieser Präsident mit einer Vehemenz denunziert, die Erinnerungen an Ronald Reagans Parolen vom "Reich des Bösen" im Osten heraufbeschwört? Wofür steht Putin wirklich?
Blicken wir zurück: Der heute so Gescholtene erschien im Sommer 1999, als die Ära eines kränkelnden Boris Jelzin zu Ende ging, wie ein Schattenmann aus dem Nichts. Sein Amtsantritt, zunächst als Premierminister, ähnelte dem eines sehr viel älteren Vorgängers - sie erinnerte an die Thronbesteigung des ersten Romanow nach einer - wie es in Russland heißt - mehrjährigen Smuta. Einer verwirrten Zeit, die dem Ableben Iwans IV., genannt der Schreckliche, im Jahr 1584 folgte. Smuta nennen die Russen jene chaotischen Verhältnisse, die immer wieder auf einen Zerfall der russischen, das heißt letztlich der eurasischen Zentralmacht hinausliefen, bevor eine neue Ordnung entstand. Als Smuta erwies sich auch die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als der Zarismus erodierte. Die vorerst letzte Smuta, die zu einer politischen und sozialen Desintegration des eurasischen Raumes führte, folgte auf die Selbstauflösung der UdSSR Ende 1991.
Auch in dieser Hinsicht gab es Parallelen zu der Zeit nach Iwan IV.: Wie seinerzeit der junge Romanow, so war auch Wladimir Putin das "Jüngelchen", auf den sich die konkurrierenden "Eliten" in dem Glauben einigten, er könne keinem von ihnen gefährlich werden. Wie der junge Romanow trat auch Putin ohne erkennbares Programm an, nur legitimiert durch den Segen von oben - durch Jelzin und "die Familie". Für diesen Clan wie auch seine lokalen Günstlinge sollten die Ergebnisse der Privatisierung - sprich: der räuberischen Umverteilung des Volksvermögens nach 1991 - unangetastet bleiben.
Aber ähnlich, wie sich die Gönner des ersten Romanow getäuscht hatten, als der - statt der Smuta freien Lauf zu lassen - das Zarentum in neuer Stärke begründete, erlebten auch die postsowjetischen "Eliten" ihre Überraschung: Putin erwies sich bald als entschlossener Restaurator, der die auf Jelzin zugeschnittene Präsidialverfassung nutzte, um Schritt für Schritt dem Zentrum wieder Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Von vielen nicht unbedingt als Strategie wahrgenommen, verkündete er seine Ziele: Eine autoritäre Modernisierung von Ökonomie und Gesellschaft dank eines starken Staates, den Rückgriff auf gewachsene Strukturen, vorrangig der russischen Gemeinschaftstradition, statt der kritiklosen Übernahme westlicher Modelle, die Etablierung Russlands als Integrationsknoten Eurasiens.
Resümieren wir, was davon Gestalt annahm, ohne uns am Detail festzuhalten: Russlands Verwaltung bekam mit den von Putin inzwischen persönlich eingesetzten Gouverneuren ein neues Rückgrat; die Privilegien der Regional- und Lokalmächte wurden gestutzt. Als Oligarchen exponierte Privatisierungsgewinnler mussten Steuern zahlen. Mit der Zerschlagung des Yukos-Konzerns kamen die wichtigsten Ressourcen Russlands wieder unter staatliche Obhut. Die Wirtschaft stieg aus dem Keller der 98er Depression und weist seither ein jährliches Wachstum von durchschnittlich 6,5 Prozent auf - das Land befreite sich von äußerer Verschuldung und einem defizitären Budget. Vor allem aber ist Russland als Subjekt der Weltpolitik zurückkehrt, nachdem es sich unter Jelzin ohne Statur zum Objekt westlicher Interessen degradiert sah. Aus dieser wieder erlangten Stärke, begünstigt durch die Rolle des Marktführers im europäischen Energieverbund, erklärt sich die neuerliche anti-russische Obsession im Westen.
Freilich ist Putin weiter mit den schwelenden Konflikten im Kaukasus konfrontiert und in der Sozialpolitik vieles schuldig geblieben. Er genießt zwar nach wie vor den Zuspruch von über 60 Prozent der Bevölkerung, dies jedoch nicht wegen, sondern trotz der auf eine "Monetarisierung der Vergünstigungen" zielenden Sozialpolitik, die mit Gepflogenheit der Sowjetzeit aufräumen wollte. Gegen die Monetarisierung von Wohnraum, Gas-, Wasser- und Stromlieferungen und sonstiger bisher bargeldloser Leistungen ging öffentlicher Protest inzwischen in stille Verweigerung nach dem Prinzip über: Wo kein Geld, da keine Zahlung - wo kein Kläger, da keine Klage. Die Reformen sind insofern regelrecht versickert, auch wenn es im Sog des jüngsten WTO-Beitritts einen weiteren Versuch zur Monetarisierung geben soll.
Nach sechseinhalb Jahren Putin ist damit eine Lage entstanden, die zu einem Spagat der russischen Führung zwischen einer neuen aktiven Rolle in der Welt des globalisierten Kapitalismus und einem nicht bewältigten Übergang zum Kapitalismus im Inneren geführt hat. Putin vermochte dies bisher auszuhalten. Er wahrte dabei auch die Balance zwischen Innenminister Sergej Iwanow als dem Exponenten der "Silowiki", also der konservativen "Statokraten" auf der einen, und dem wirtschaftsliberalen Dimitri Medwedjew auf der anderen Seite. Keiner von beiden wäre prädestiniert, dieses fein austarierte Gleichgewicht künftig zu sichern, so dass 2008 eine Kandidatur für das Präsidentenamt ausgeschlossen scheint. Auch andere zuweilen genannte Bewerber wie KP-Chef Sjuganow oder Ex-Premier Kasjanow repräsentieren nur Teilkräfte. Das gilt erst recht für Schachweltmeister Kasparow, der namens der Ultra-Liberalen antreten möchte - ganz zu schweigen vom ewigen Provokateur Schirinowski. Keiner kann Putin ersetzen, mit dessen Abgang wäre das "System der inneren Balance" hinfällig - es sei denn, ein neues "Jüngelchen" tauchte auf, von dem bislang keiner weiß. Überraschungen, wie sie mit dem weithin unbekannten Alexander Gonskoi, Bürgermeister im nordrussischen Archangelsk verbunden wären, sind denkbar. Andererseits hat die Ära Putin keinen neuen Konsens bewirkt, der die "Eliten" und die Bevölkerung dauerhaft, ohne Autorität von oben, zueinander finden ließe.
Der jetzige Präsident ist sich dieser zwiespältigen Situation zweifellos bewusst, um so mehr hat er im August geradezu provokativ eindeutig das Ansinnen der Machtpartei Einheitliches Russland abgelehnt, als "Retter der Nation" eine dritte Amtszeit anzustreben. Er forderte stattdessen, der Opposition mehr Raum zu geben. Mit der sich formierenden neuen Partei Gerechtes Russland, die sich als Gegenspieler von Einheitliches Russland versteht, aber den von Putin verfolgten Kurs prinzipiell gutheißt, ist inzwischen ein Schritt in diese Richtung getan. Wieder einmal zeichnen sich Konturen eines Zweiparteiensystems nach US-Vorbild ab - ob es dazu kommt, ist höchst fragwürdig.
Wäre ihm wirklich an der weiteren Demokratisierung Russlands gelegen, täte der Westen gut daran, Putins Bemühungen um einen Nachfolger zu unterstützen, der die Stabilität Russlands garantiert, statt ihn als "Diktator" diskreditieren und durch den Aufbau einer inneren "Front", die zu den "Errungenschaften" Jelzins zurück will, demontieren zu wollen. Derartiges kann nur zu einer neuen Smuta führen oder deren gewaltsame Verhinderung provozieren.
s. Kai Ehlers, Aufbruch oder Umbruch? Russland zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Pforte/Entwürfe, 2005
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.