Der Winter in den Niederlanden begann 1944 früh und ungewöhnlich heftig. Für die Bevölkerung war das eine Katastrophe. Wenige Monate zuvor hatte die Exilregierung einen Eisenbahnstreik ausgerufen, um den Vormarsch der Alliierten in Europa zu unterstützen. Als Vergeltung hatten die deutschen Besatzer daraufhin sämtliche Nahrungsmitteltransporte gestoppt. Die Städte im Westen der Niederlande waren vom ländlichen Osten abgeschnitten. Als das Embargo im November wieder aufgehoben wurde, hatte der frühe Wintereinbruch die meisten Kanäle und Wasserstraßen bereits zufrieren lassen – und die Städte blieben von der Nahrungsmittelzufuhr abgeschnitten.
Die Folge war eine furchtbare Hungersnot, zu deren Höhepunkt die tägliche Ration pro Einwohner nur 400 Kalorien betrug. Schwangere und stillende Frauen hatten zwar Anrecht auf zusätzliche Nahrung, aber das Versprechen konnte die meiste Zeit nicht eingelöst werden. Es waren außerordentliche Lebensumstände, die erst mit der Befreiung der Niederlande im Mai 1945 ein Ende fanden.
Forscher glauben, in den Enkelkindern dieser Generation nun den Beweis dafür gefunden zu haben, dass beim Menschen auch erworbene Eigenschaften vererbt werden. Wissenschaftler der Universität Amsterdam haben Kinder, die kurz nach der Hungerkatastrophe geboren wurden und inzwischen selber Mütter sind, über die Gesundheit ihrer Kinder befragt. Dabei stellte sich heraus, dass Mütter, die als Embryos im Mutterleib der Hungersnot ausgesetzt waren, später selber Babys zur Welt brachten, die im Durchschnitt dicker waren und häufiger an Übergewicht litten als die Kinder von Müttern, die nicht der Hungersnot ausgesetzt waren. Gerade so, als habe der kindliche Stoffwechsel auf die Hungersnot reagiert – und verwerte die Nahrung besser.
Ein verzwirntes Garn
„Das Aufregende ist, dass man da offensichtlich eine Vererbung sieht von Veränderungen, die durch Umwelteinflüsse hervorgerufen wurden“, sagt Joachim Klose vom Institut für Humangenetik der Berliner Charité. Das Ganze erinnere an Lamarcks Theorie der Vererbung. Darwins Vorgänger war überzeugt, dass Giraffen ihre langen Hälse bekamen, weil sie sich über Generationen nach den höchsten Blättern reckten. Damit lag er allerdings falsch. Die Evolution beruht im Großen und Ganzen auf der Vererbung von Genen, von Eigenschaften also, die wir von Geburt an in uns tragen – da sind sich nach wie vor alle einig. Aber in einigen Ausnahmefällen könnte Lamarck eben doch recht gehabt haben.
Natürlich kann man sich auch andere Erklärungen für das erhöhte Gewicht der Babys in der Amsterdamer Studie vorstellen. Aber weitere Experimente weisen in dieselbe Richtung. So konnte der amerikanische Forscher Randy Jirtle in einem Experiment mit Mäusen die Fellfarbe der Nachkommen beeinflussen, indem er die Nahrung von schwangeren Tieren änderte. Bekamen sie ihr normales Futter, war das Fell der Mäusebabys gelblich. Bekamen sie aber Futter zu fressen, das mit Folsäure angereichert war, so hatten die Nachkommen braunes Fell.
Doch selbst wenn die Vermutung stimmt, der Körper der hungernden Kriegsbabys habe sich auf die schlechte Ernährungssituation eingestellt und diese Erfahrung wiederum an ihre eigenen Babys weitergegeben: Wie soll das funktionieren? Die Gene des Kindes sind ja von der Zeugung an festgelegt.
Die Antwort darauf gibt die Epigenetik, also übersetzt gewissermaßen „Zusatz-Genetik“. Diese beschäftigt sich mit den Signalen, die mit den Genen gemeinsam vererbt werden und darüber entscheiden, welche der vielen Gene tatsächlich aktiv sind und welche nicht. Sie regulieren die DNS unseres Erbguts. In der Zelle des Menschen liegt die DNS nicht einfach als langer Faden vor, sondern eher wie eine Garnspule. Aufgedröselt wäre der DNS-Faden in jeder Zelle rund zwei Meter lang. Um dieses drei Milliarden „Buchstaben“ lange Band überhaupt im Zellkern unterzubekommen, sind wahre Verpackungskünste nötig. Zunächst ist der Faden im Abstand von einigen hundert Buchstaben jeweils um einen Proteinkern gerollt, wie auf eine Spule. Im Elektronenmikroskop sieht es ein wenig aus wie eine Perlenkette. Die einzelnen Perlen sind dann in der Zelle noch einmal ineinander verschachtelt. So wird die DNS auf ein Zehntausendstel ihrer Länge geschrumpft.
Dieses Gemisch aus Proteinen und DNS bezeichnen Forscher als Chromatin. Damit die Zelle ein Gen aber ablesen und verwenden kann, muss das Chromatin locker und der Zugang zum Gen frei sein. Darüber entscheiden Marker an den Proteinen. Wie eine Art Lesezeichen signalisieren sie: „Hier ist ein wichtiges Gen, hier muss der Faden aufgedröselt bleiben.“ Umgekehrt kann ein Gen von der Zelle abgeschaltet werden, indem es einfach aufgerollt wird und die Lesemaschinerie nicht mehr daran kommt.
In der Tat stellte Randy Jirtle bei der Untersuchung seiner braunen Mäuse epigenetische Veränderungen fest. Die Mäuse hatten das Gen für die Fellfarbe einfach ausgeschaltet. Der Mechanismus: Chemische Gruppen hatten sich an das Gen angeheftet und es so stillgelegt. Dass es diese Mechanismen gibt, ist nicht neu. „Wir wissen das schon seit mehr als 20 Jahren“, sagt Heinrich Leonhardt von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Die epigenetischen Prozesse seien lebenswichtig für die Entwicklung vielzelliger Lebewesen.
Jede Zelle hat ihre Geschichte
Die Epigenetik erklärt, wie aus einer befruchteten Eizelle die Billionen spezialisierter Zellen entstehen, die einen Menschen ausmachen. Denn obwohl alle Zellen dieselben genetischen Informationen tragen, gibt es im Körper ganz unterschiedliche Zelltypen wie zum Beispiel Muskelzellen, Herzzellen und Fettzellen. „Diese Zellen sind völlig verschieden, sehen auch unterschiedlich aus, aber sie tragen alle dieselbe genetische Information.“ Dass das funktioniert, liege an der epigenitischen Steuerung. „Diese Zellen lesen nur den Teil des Genoms ab, der für sie relevant ist. Eine Muskelzelle schaltet alle Gene, die sie nicht braucht, einfach ab.“ Die Identität einer Zelle liegt also auch in ihrer Geschichte, ihren epigenetischen Markierungen. „Ohne Epigenetik könnte man sich die Entwicklung eines vielzelligen Organismus nicht erklären, ob das nun irgendein Wurm ist oder ein hochdifferenzierter Mensch.“
Bisher ging man allerdings davon aus, dass all diese Markierungen mit jeder neuen Generation gelöscht werden – sogar zweimal. Einmal bei der Entstehung der Keimzelle und dann noch einmal in der befruchteten Eizelle. In der Studie aus Amsterdam sehen viele Forscher nun einen Beweis, dass erworbene epigenetische Signale eben doch auf die nächste Generation übertragen werden können.
Renato Paro von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich hat das auch im eigenen Labor beobachten können. „Wir haben im Fliegenexperiment ein Gen epigenetisch aktivieren können, das die Augen rot färbt.“ Dieser vom Chromatin bestimmte Zustand des Gens sei dann auch bei einem gewissen Prozentsatz der Nachkommen erhalten geblieben. „Auch in der vierten Generation gab es noch Fliegen, deren Augen rot waren.“ Paro ist daher überzeugt, dass es grundsätzlich möglich ist, solche Signale zu vererben.
Andere Forscher sehen noch Grund für Zweifel. „Ich bin sehr skeptisch, was eine generelle epigenetische Vererbung anbelangt“, sagt Leonhardt. Er könne sich zwar vorstellen, dass etwa extreme Mangelernährung epigenetische Auswirkungen hat. Aber dass wirklich erworbene Fähigkeiten vererbt werden, halte er für Unsinn, da die Information über die komplexe Verschaltung von Nervenzellen, die unsere Erfahrungen ausmachen, allesamt in der Eizelle oder dem Spermium abgespeichert werden müssten.
Dennoch, Forscher aus den USA haben Anfang des Jahres eine Studie publiziert, die etwas ganz Ähnliches zu zeigen scheint. Das Team um Larry Feig von der Tufts- Universität untersuchte Mäuse mit einer genetisch bedingten Erinnerungsschwäche. Die Mäuse konnten den Defekt ausgleichen, wenn sie in einem stimulierenden Umfeld aufwuchsen, also beispielsweise häufig mit neuen Objekten und anderen Mäusen konfrontiert wurden. Die Forscher zeigten in Experimenten, dass auch die Nachfahren, die diese „geförderten“ Mäuse später zur Welt brachten, sich besser erinnern konnten. Obwohl die Jungtiere den Gendefekt geerbt hatten, arbeitete ihr Gedächtnis besser als das von Tieren in der Vergleichsgruppe, gerade so, als hätten die Jungen selbst das stimulierende Umfeld genossen.
Leonhardt bleibt aber skeptisch. „Dabei handelt es sich um Sonderfälle, aber es gibt keinen bekannten Weg, wie komplexe Erfahrungen epigenetisch in der Eizelle abgespeichert werden könnten“, sagt er. Eine wichtige Rolle spiele die epigenetische Entwicklung dennoch, damit der Organismus sich auf gewisse Umwelteinflüsse schnell einstellen könne. „Man muss das fast philosophisch sehen. Der Mensch hat auf der einen Seite das starre System der Genetik, wo sich an den Buchstaben des Genoms nichts ändern lässt während des Lebens, und auf der anderen Seite hat er die Epigenetik, die relativ flexibel ist und damit Anpassungen ermöglicht.“
Neue Stoffe und Muster
Auch wenn Leonhardt bei der Frage der Vererbung skeptisch ist. Dass die Lebensumstände auch unsere epigentische Entwicklung beeinflussen, hält er für gut möglich. „Wenn ich mich langfristig falsch ernähre, dann hat der Körper eine ganze Reihe schon lange bekannter Möglichkeiten, sich darauf einzustellen.“ Sicher gebe es auch epigenetische Mechanismen, die diese Veränderungen dann stabilisieren würden, die Veränderungen also gewissermaßen festschreiben würden. „Das ist bislang nur eine Arbeitshypothese“, warnt Leonhardt. Es sei aber durchaus denkbar, dass zum Beispiel auch depressive Zustände durch solche epigenetischen Veränderungen verfestigt würden und es deswegen so schwer sei, wieder aus einer Depression herauszufinden.
Klar ist, dass epigenetische Signale bei manchen Krankheiten eine Rolle spielen. So weiß man inzwischen, dass viele Krebszellen solche Veränderungen aufweisen.
„Das ist sehr gut erforscht“, sagt Leonhardt. Unter anderem liege das auch daran, dass jeder Patient seinen Tumor gerne abgebe, während es schwieriger sei, gesundes Gewebe zu bekommen, das man erforschen könne. Aus diesen Untersuchungen habe man viel gelernt: „Man kann davon ausgehen, dass in jeder Tumorzelle das epigenetische Muster verändert ist.“ Paro findet es logisch, dass epigenetische Veränderungen auch Krebs verursachen können: „Das ist so, als würde die Zelle ihre Erinnerung verlieren. Dann weiß eine Leberzelle nicht mehr, dass sie eine Leberzelle ist und beginnt, sich unkontrolliert zu teilen.“ Wahrscheinlich gebe es auch viele andere Erkrankungen, die durch epigenetische Störungen ausgelöst werden könnten.
Vieles sei aber noch unklar, warnen die Forscher. So zum Beispiel die Frage ob es Stoffe gibt, die im menschlichen Körper das epigenetische Muster beeinflussen. In der Medizin ist bekannt, dass bestimmte Stoffe beim Menschen Veränderungen in der Gensequenz verursachen können. Paro glaubt, dass es Stoffe geben könnte, die ganz analog epigenetische Signale verändern könnten. „Wir werden vielleicht eine ganz neue Klasse von Stoffen definieren müssen, die epigenetische Information beinflussen.“
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