Abschied und Willkommen

Besuche Einer geht, eine andere kommt

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Etwa 50 Menschen in der Friedhofskapelle wollen am Nachmittag dieses Tages spät im November von ihm Abschied nehmen: Eltern, Schwester, Verwandte, Freunde, Kollegen und Kolleginnen seiner Mutter aus einigen europäischen Ländern, die zufällig in diesen Tagen in ihrer Schule an einem Erasmus-Projekt teilnehmen.

Kein Pastor, keine Gebete, keine Orgel, keine Lieder aus dem Gesangbuch. J. war Atheist. An der Wand einige kurze Texte: „Ein Leben, es sei so gut es wolle, es währet nur eine kurze Zeit“.

Vor der Ostseite der Kapelle der einfache Sarg, neben dem Sarg ein Foto des Toten als junger Mann (lachend), auf dem Sarg einige Sachen, die ihm wichtig gewesen sind – ein Panamahut, einige Fossilien, Bücher von Stephen King, CDs mit Musik aus „Star Wars“, sein Tagebuch.

Der Vater spricht von seinen Erinnerungen an den Sohn: ein fröhliches Kind, ein guter Schüler, beliebt bei den Kleinen der Kita, in der er seinen Zivildienst leistete, Studium, erst Physik, dann Chemie, beides ohne Abschluss, verdient seinen Lebensunterhalt mit der Übersetzung von Gebrauchsanweisungen für technische Geräte vom Deutschen ins Englische, der Selbstmord der Freundin und der Absturz in die Drogenszene, nur noch sporadische Kontakte zu den Eltern ,die sich inzwischen getrennt hatten, keine Bereitschaft, Hilfe von außen zu akzeptieren, probierte den kalten Entzug, als er, nun 33 Jahre alt, von einem Mitbewohner tot, in seinem Bett sitzend, aufgefunden wird, sein Tagebuch, in dem er seinen Drogenkonsum und seine Versuche, clean zu werden, dokumentiert hat.

Die Mutter spricht. Sie versichert J. ihrer Liebe, sie weint und schluchzt.

Freunde nehmen Abschied, sprechen von der Empathie des Toten, seiner großen Bereitschaft, anderen zu helfen, von seiner Weigerung, mit ihnen über sein Lebensproblem zu reden.

Während Musik aus „Star Wars“ und sein Lieblingslied „Always look on the bright side of life“ erklingt, schreiben Trauergäste mit Filzstiften letzte Grüße auf den Sarg. Mitarbeiter des Beerdigungsunternehmens tragen den Sarg hinaus. Der Tote wird in Tschechien verbrannt werden, seine Asche, so hatte er es in seinem Tagebuch gewünscht, soll an Orten, die er genau bezeichnet hatte, verstreut werden.

Nach der Trauerfeier Kürbissuppe und Antipasti in der benachbarten Gaststätte. Die Mutter berichtet, wie die Besatzung eines Streifenwagens ihr die Nachricht überbracht und sie darauf so reagiert habe, wie man es in Filmen sehe: gefasst, fast unbeteiligt, ganz konzentriert auf die praktischen Dinge, die nun zu tun waren. Vom Vater erfahren wir, dass Polizei und Gerichtsmedizin wegen Personalmangels erst nach dem Wochenende zu genaueren Auskünften über die Umstände des Todes von J. in der Lage gewesen seien. Das Gesetz lasse es übrigens nicht zu, dass die Angehörigen des Toten über die Ergebnisse der Obduktion informiert würden.

***

L. ist da. Vor zwei Tagen wurde sie in einem katholischen Krankenhaus einer kleinen Stadt im westlichen Münsterland mit einem Kaiserschnitt ans Licht der Welt befördert. Nun liegt sie ruhig an der Brust der Mutter, anscheinend entspannt, wenn auch mit faltigem Gesicht und geballten Fäusten. Ab und an ein leises Seufzen. Wir packen kleine Geschenke aus: ein Schutzengel vom Weihnachtsmarkt und die kolorierten Holzbuchstaben ihres Namens.

Der Vater ist euphorisch. Er berichtet, wie professionell das kleine Team von Ärzten und Hebammen seine Arbeit gemacht habe, wie schnell nach dem Schnitt L. auf der Welt war, wie glücklich sie gewesen seien, als man ihnen gesagt habe, dass mit der Tochter alles in Ordnung sei, wie man von ihnen (Vater, Mutter und L.) ein Foto gemacht habe, wie man ihnen danach im Kreißsaal ein kleines Frühstück serviert habe und sie zu dritt eine Weile auf dem Bett gelegen hätten. Alles sei ihnen wie ein Wunder schienen.

Die Mutter ist glücklich und müde, hat leichte Schmerzen und mag nicht viel reden. Sie hofft, bald nach Hause entlassen zu werden.

Auf der Heimfahrt versuchen wir uns vorzustellen, wie die Welt aussehen wird, wenn L. so alt sein wird wie wir heute - so um 2085. Wir hoffen, dass L. doch irgendwie glücklich geworden sein wird.

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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