Alles ganz gut

Heiligabend Stimmt: Früher war mehr Lametta. Aber auch heute hat er seine Reize

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Am Morgen: Das kleine Mädchen im Wartezimmer des Augenarztes fragt mich: „Bist du Günther?“ – „Nein, Klaus.“ – „Ach, schade.“

Später, beim Frühstück: Die Lokalzeitung berichtet über Weihnachten im Bordell (Plastikbaum, rote LED-Leuchten, viel Lametta). Die Betreiber, ein Ehepaar Mitte 50, erklären, dass sie die Betriebsferien in den Weihnachtstagen zum Hausputz nutzen: „eine anstrengende Zeit“.

Nachmittags: Als wir zum Gottesdienst in der evangelischen Christuskirche in A. eintreffen, sind alle Sitzplätze längst besetzt. Der Posaunenchor kündet in voller Lautstärke von der Geburt des Herrn. Wir entweichen in den Schlosspark, wo wir uns die Zeit bis zur Bescherung mit der Betrachtung des schwarzweißen Schwanenpaars und Spekulationen über seinen symbolischen Gehalt vertreiben.

Abends: Unterm Tannenbaum liegt die Biografie von „Udo“ gleich zweimal. Beim Blättern stoße ich auf diese Sätze, die mir gut gefallen: „Der große Udo, Mr. Flexibel, Mr. Superelastisch. Der Mann mit den Beinen, die oft wirkten, als seien sie aus Kautschuk. Das Wesen, das es meist schaffte, schneller zu sein als die Schläge, die das Schicksal bereithält.“ Der Verlag behauptet, die Biografie sei ein „rasanter Ritt durch sieben Jahrzehnte BRD.“ Mal sehen.

Kartoffelsalat mit Würstchen, eingelegten Gurken, bayerischem Senf, Bier, Weißwein und Wasser – die Familie lässt es sich schmecken, alle sind auf Frieden aus, auch der Schwager und seine Ex, es werden Pläne geschmiedet und einer erinnert an den einsamen, alten, weißen Mann im Weißen Haus. Hannah, 4 Monate und jüngstes Familienmitglied, liegt in ihrer Wiege und schaut uns wohlwollend zu.

In der Nacht: Auf der leeren A 30 erinnert sich im Rundfunk die Tochter von H.M. Enzensberger an ihr schönstes Weihnachtsfest: Als sie einmal - Vater, Mutter und sie, alle von der Grippe erwischt - zusammen und ganz allein die Feiertage mit Kamillentee und Fernsehserien verbracht hätten.

Wieder zuhause. Alles still. Nur in der Ferne die Sirene eines Rettungswagens. Es klingelt: Die Nachbarn sind aus der Mitternachtsmesse zurück: "Frohe Weihnachten!"

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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