Verdamp lang her

Kursbuch 13 (1968) Zur Produktion von Feindbildern im westdeutschen Kapitalismus

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Am Morgen griff ich während meines Aufenthalts auf der Gästetoilette zum Kursbuch 13 aus dem Jahre 1968, das dort seit einiger Zeit mit anderen schriftlichen Zeugnissen aus meiner quasirevolutionären Phase ein ruhiges Leben fristet. Beim flüchtigen Lesen der Namen der Autoren, die hier zum Thema „Die Studenten und die Macht“ Beiträge geleistet hatten, fiel mein Blick auch auf den Namen Hans Magnus Enzensberger. Ich entschied, noch eine Weile zu bleiben, und las mit wachsendem Interesse, was H.M.E., damals ein junger Mann von knapp 40 Jahren, zu Kapitalismus und Faschismus in Westdeutschland geschrieben hatte. Zur Notwendigkeit von Feindbildern in dieser Gesellschaft hatte er u.a. dies bemerkt:

33. Viel Feind viel Ehr. Der deutsche Kapitalismus fühlt sich, hoffentlich zu recht, von den Massen bedroht, die er ausbeutet und um ihre historischen Möglichkeiten betrügt; von denselben Massen ließe er sich gern verteidigen. Als Volksgemeinschaft sollen sie sich um die Wagenburg des Kapitals scharen, zur extremen Mitte sich formieren. Im Prinzip ist das ein alter Hut: Die gerechte Wut der abhängigen Massen, ihre ungeheuren, im Alltag der Ausbeutung aufgestauten Aggressionen müssen von ihrem wahren Ziel, der herrschenden Klasse, abgelenkt werden. Dazu wird ein Feind benötigt. In der Rekonstruktionsphase nach dem Kriege hat diesen Dienst der Kommunismus versehen. Die Politik der Koexistenz, so willkommen sie dem amerikanischen Imperialismus sein mag, hat dazu geführt, daß dies kommode Feindbild zerflossen ist. Die diversen europäischen Erzfeinde sind auf Verlangen der Großkonzerne abgetakelt worden. Die Gelbe Gefahr will und will nicht näher rücken, auch blüht nach China der Export. Weit und breit kein Belagerer, der den Belagerungszustand rechtfertigen könnte.

Es muß daher ein Innenfeind in Auftrag gegeben werden. Seine Produktion übernimmt die Spitzenfirma der Bewußtseinsindustrie, nämlich der Springerkonzern. Die Marktforschung ergibt folgendes Bild. Juden kommen nicht in Betracht. Sie stehen nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung; außerdem hat man mit ihnen schlechte Erfahrungen gemacht. Rentner scheiden schon wegen ihres korrekten Wahlverhaltens aus. Die KPD ist als Feind unzureichend, übrigens dezimiert und verboten. Als ideale Zielgruppe werden die Studenten entdeckt.

(Hans Magnus Enzensberger, Berliner Gemeinplätze II. Zitiert nach: Kursbuch 13 (1968), S.193)

Ich war überrascht über den alten jungen Enzensberger. Zuletzt hatte ich ihn nur noch als den Verfasser entspannt-melancholischer Gedichte über den Verlust der Utopien und über die Irrtümer der Linken wahrgenommen. Läse er heute noch einmal seine „Berliner Gemeinplätze“ von damals – er wäre vermutlich amüsiert und vielleicht etwas gerührt von der Klassenkampf-Rhetorik und der Selbstsicherheit seiner jungen Jahre.

Mir schien jedoch, dass dieser fast fünf Jahrzehnte alte Text die Mechanismen der Feindbilder-Produktion im Kapitalismus immer noch plausibel beschreibt. Die Krise des Kapitalismus hat sich in der Zwischenzeit zugespitzt und ist offensichtlicher geworden, als sie 1968 war. Allerdings fehlt die "gerechte Wut der abhängigen Massen", sie war damals schon eine Schimäre. Nach der Logik von H.M.E. bräuchte der Kapitalismus neue Feindbilder, nachdem Bolschewismus, die europäischen Erzfeinde, die Chinesen, die Juden, die ortsansässigen Kommunisten und die Studenten in dieser Rolle nicht mehr glaubwürdig sind. Mögliche neue Kandidaten für die alte Rolle zeichnen sich ab: der internationale Terrorismus, muslimische Immigranten, der dämonische Putin, vielleicht auch die Gierigen unter den Kapitalisten.

Als ich den Ort verließ, nahm ich mir vor, häufiger in den Texten aus meiner quasirevolutionären Phase zu lesen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden