Demonstrieren oder vertikutieren?

Zum 1. Mai 2019 Aus dem progressiven Alltag

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Beim Warten auf die Stadtbahn kam das Gespräch auf den 1. Mai. „Kommt ihr mit zur DGB-Kundgebung im Ravensberger Park?“, fragte ich. „ Ich finde das Motto Europa. Jetzt aber richtig!“ aktuell und politisch korrekt. Es reden zwei prominente Arbeiterführer: der Oberbürgermeister (SPD) und der Ministerpräsident (CDU). Nach dem offiziellen Teil essen wir einen Döner, trinken 2 oder 3 herrliches Herforder und denken dabei an bessere Zeiten. Wie wär’s?“

„Ach nee“, sagten die anderen. Sie erklärten, dass der Fahrradclub eine Tour nach Detmold organisiert habe, sie keine Lust hätten, gemeinsam mit AfD-Sympathisanten und Erdogan-Fans zu demonstrieren und der Rasen unbedingt vertikutiert werden müsse, weil demnächst wieder Regen angesagt sei. „Überhaupt“, sagte J., „es ist schon komisch, dass ein linksliberaler Gutmensch wie du, Wohlstandsideologe und staatlich alimentierter Moralist, Mitglied einer Gewerkschaft ist und zur Teilnahme an der Demo einer kollektivistischen Organisation mit vielen faschistoiden Mitgliedern aufruft.“

B. teilte mit, sie habe beschlossen, dass wir beide am nächsten Mittwoch die Terrasse säubern, die Tische und Stühle aus ihrem Winterquartier holen und auf die Sommersaison vorbereiten, ölen und polieren. Widerspruch sei zwecklos, ein Kompromiss – am Vormittag Demo, am Nachmittag Arbeit – nicht möglich, da ich in den letzten Jahren von den Nachfeiern zum 1.Mai immer in einem bedenklichen Zustand zurückgekommen sei.

Ich zitierte Oskar Negt (Um sich mit der Macht einer Alternative zum bestehenden Gesellschaftssystem auszustatten, bedarf es des Mutes zur Utopie.), fand aber kein Gehör, und weil ich einen Streit vermeiden wollte, fügte ich mich ins Unvermeidliche.

Auf der Fahrt nach Hause passierten wir in Höhe der Uni Plakate der MLPD (Protest ist links). Ich nahm mir vor, die Frage „Demo oder vertikutieren?“ noch einmal mit B. zu diskutieren.

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

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