Meine Lokalzeitung berichtet heute auf der ersten Seite von 5000 Schüssen auf flüchtige Terroristen in Saint - Denis, von einer 16Jährigen, die ihren Vater mit einem Messer getötet haben soll, von einem 22jährigen Vater, der seinen drei Monate alten Sohn so schwer misshandelt haben soll, dass dieser an den Folgen seiner Verletzungen in der Klinik starb, und von einer 89Jährigen, die auf dem Friedhof von zwei Jugendlichen niedergeschlagen und beraubt wurde. Für Melancholiker jede Menge Bestätigung für ihre Vermutung, dass der Mensch schlecht und die Welt böse sei. Auch die Community hat nichts Erfreuliches zu melden, ein Forist fragt besorgt: „Fehlt letztlich doch der Mut zum Frieden?“
Ich mustere meinen persönlichen Kanon guter Lyrik nach Texten mit positiver Botschaft und stoße bald auf ein Gedicht von H. M. Enzensberger , in dem er am Ende des letzten Jahrhunderts mit sanftem Spott auf Kapitalismuskritiker und Kulturpessimisten ein idyllisches Bild unserer Gesellschaft skizziert.
Hans Magnus Enzensberger
Optimistisches Liedchen ( 1999 )*
Hie und da kommt es vor
daß einer um Hilfe schreit.
Schon springt ein andrer ins Wasser,
vollkommen kostenlos.
Mitten im dicksten Kapitalismus
kommt die schimmernde Feuerwehr
um die Ecke und löscht, oder im Hut
des Bettlers silbert es plötzlich.
Vormittags wimmelt es auf den Straßen
von Personen, die ohne gezücktes Messer
hin- und herlaufen, seelenruhig,
auf der Suche nach Milch und Radieschen.
Wie im tiefsten Frieden.
Ein herrlicher Anblick.
Endlich mal ein Dichter, der davon singt, was in der Welt gut ist und klappt - jedenfalls damals, am Ende des letzten Jahrhunderts.
Mein Bedürfnis nach Nachrichten, die Mut machen, ist nun gestillt, und ich warte auf den Versicherungsvertreter, der mir erklären will, wie das Bildungssparen für die Großnichte funktioniert.
* In: H.M.E., Leichter als Luft. Moralische Gedichte. Frankfurt/M. 1999, S.7
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