Schnelles Ende

Stammtischdiskurse Die Gutmenschen machen Schluss

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„Ach, wirklich?“, fragte Herr Aziz interessiert, während er die Filets sortierte.

Wir hatten gerade unsere Auflösung beschlossen: Kein Stammtisch der Gutmenschen mehr am Freitagmorgen zwischen 7 und 8 auf’m Siggi.

N. hatte erklärt, dass er der Frau, die bei ihm in der Adventszeit eingezogen war, nicht mehr plausibel machen könne, dass er freitags in aller Frühe Bett und Tisch verlasse, um sich mit alten Kumpeln zu treffen.

D. fand, dass es praktisch keine Gutmenschen mehr gebe und unser Akt der Solidarisierung mit nicht existenten Wesen irgendwie sinnlos sei. Am besten sei es, still und beharrlich Gutes zu tun – ohne Verein, ohne Rituale und ohne menschenfreundlichen Überbau.

O. stimmte den anderen zu, weil er in 2017 einen Teil seiner Arbeit in der Werbeagentur von zuhause aus erledigen werde; er freue sich darauf, freitags ausschlafen zu können.

Ich plädierte für die Fortsetzung des Stammtischs („Frustration in Poesie verwandeln“), gab aber bald auf, denn es zeigte sich, dass die anderen sein Ende wollten.

Wir tranken einen zweiten Espressso. O. rezitierte zwei Verse aus einem Gedicht, an dem er gerade arbeite: Der König soll kürzlich erklärt haben / er blicke voll Zuversicht in die Zukunft. Er suche noch nach einem Kontext, in dem die beiden alten Verse von Enzensberger ihren aktuellen, kritischen Sinn entfalten könnten. Habt ihr vielleicht…?

Es stellte sich heraus, dass wir keine Idee hatten. Schweigen. Dann erschien ein zartes Morgenrot über der Stadt. Wir nahmen die Gelegenheit wahr, uns zu verabschieden: „Gutes neues Jahr!“

Herr Aziz nickte und zwinkerte uns zu.

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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