Engel im Zimmer

Bin ich entbehrlich? Die Farbe Blau, die Große Magellansche Wolke, der Feldspat, der Froschlöffel und ich

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Vor der schwülen Mittagshitze auf dem Siggi flüchtete ich in das kühle Hinterzimmer eines Cafes und traf dort auf den Lyriker O., der mal wieder auf der Suche nach einer kühnen Metapher für sein lebenslanges Bemühen um Sinn und Bedeutung war. Resigniert blätterte er in einem alten Band* von Enzensberger-Gedichten: „Der Alte war mal wieder früher und besser. Niemand spricht so lässig und elegant von der eigenen Entbehrlichkeit wie er. Tja, es ist schwer ein Epigone zu sein.“

Wir trösteten uns bei einem warmen Glas grünen Tees.

Zuhause fand ich das Gedicht, das es ihm besonders angetan hatte, im Internet:

DIE VISITE

Als ich aufsah von meinem leeren Blatt,
stand der Engel im Zimmer.

Ein ganz gemeiner Engel,
vermutlich unterste Charge.

Sie können sich gar nicht vorstellen,
sagte er, wie entbehrlich Sie sind.

Eine einzige unter fünfzehntausend Schattierungen
der Farbe Blau, sagte er,

fällt mehr ins Gewicht der Welt
als alles, was Sie tun oder lassen,

gar nicht zu reden vom Feldspat,
und von der Großen Magellanschen Wolke.

Sogar der gemeine Froschlöffel, unscheinbar wie er ist,
hinterließe eine Lücke, Sie nicht.

Ich sah es an seinen hellen Augen, er hoffte
auf Widerspruch, auf ein langes Ringen.

Ich rührte mich nicht. Ich wartete,
bis er verschwunden war, schweigend.

B., der ich das Gedicht vorlas, fand es larmoyant: „Die demonstrative Coolness ist nicht glaubwürdig. Der leidet wirklich an an seiner Entbehrlichkeit.“

Sie empfahl mir einen Blick in ihre blauen Augen oder, wenn das nicht helfe, eine Besinnung auf Rot.

* H.M.E., Kiosk, Neue Gedichte, Frankfurt/M 1995

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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