Georges-Emmanuel Clancier
WINTERMÄRCHEN IN VERSEN ÜBER EIN WUNDER IN PARIS
für Julie
An einem rauen kalten grauen Tag
in Paris, gegen Jahresende,
schlenderst du, komme, was kommen mag,
durch die Cité und denkst, es fände
sich schon ein Kino, wo dich die Menge
der Menschen, der ohne Ziel
du folgst, aus ihrem Gedränge
entlassen würde, und soviel
du vermutest, läßt diese Schlange
dich mit zahllosen andern,
damit dir die Zeit nicht lange
werde, zu einer Leinwand wandern...
Doch nicht in die Dunkelheit
eines Saales trittst du hinein,
vielmehr erwartet dich jubelnde Schönheit
in ihrem sagenhaft leuchtenden Schrein!
Ein schöner Zufall hat dich heute
in die Sainte-Chapelle geführt,
und der Jahrhunderte Geläute
hat dich hier tief berührt.
Ludwig und Blanca von Kastilien träumen
hier noch in strahlendem Gold und Rot,
in weiten Kirchenfensterräumen
besiegt der Engel immer den Tod.
Hier gab dir frühlingshafte Ewigkeit
in den Farben von Himmel und Feuer das Glück
der unbeschwerten Kinderzeit
und ihrer frohen Spiele zurück.
So hat dich dein zielloses Streunen
durch graue, trübe Winternacht
zuletzt zu solch einem feinen
bescheidenen Wunder gebracht.
Zvonko Maković
Nachher
Das sieht in Gedichten immer anders aus.
Wenn ich die Sätze lese, die andere schreiben,
alles scheint mir deutlich und leicht zu sein.
Wie ein Blatt Papier, das immer noch dem Feuer widersteht,
das die Vorzeichen der Asche auf sich selbst kaum
verspürt. In meinem Hof ist die Asche so allumfassend.
Wie die Täuschung, wie das Bild, das entzückt.
Viele schreiben über die verlorene Schönheit,
über das Unglück, das plötzlich auftritt und sich in ein stilles,
verlassenes Herz einschleicht.
Ich möchte jedoch etwas sagen
über meinen Hof und den großen Fluss,
den man vom Fenster sehen sollte.
Über die Esche und die beiden Linden, die
seit einigen Tagen nicht mehr da sind.
Das Triebwerk des Märchens war mir plötzlich
ganz unergründlich.
Jene Asche, die aus dem Fenster verstreut wird,
jener schwarze Ruß, das noch gestern
ein Tisch, ein Bett oder Bücher war,
jemandes Leben, über das man nicht viel nachgedacht hat,
das steckt mir im Hals und vernebelt meine Sicht.
Wenn ich mit der Hand zum Schlag aushole,
werde ich dann noch irgend etwas spüren können?
P.S.
Anders als die MANNSCHAFT sind die deutschen Poeten auch in diesem Sommer in der guten Verfassung des Vorjahres. Zum Beispiel Jürgen Becker aus dem Bergischen Land:
…
Roth-Händle in Sechserpackung.
Vormals Friedrichstraße Berlin.
Herkenrath im Tor gegen Sowjetrußland.
Kurt Edelhagen und das Modern Jazz Quartett.
Der lachende Vagabund
Kollegen früher Fallschirmjäger, Panzerfahrer, Totenkopf
...
(aus: Jürgen Becker, Graugänse über Toronto.Journalgedicht. Berlin 2017)
Oder Hellmuth Opitz aus Bielefeld:
Limonade
Diese dickflüssigen Sommernachmittage,
in denen wir schwammen,
wenn wir vom Bolzen kamen,
die Kehlen verklebt vom Ascheplatz,
Nachmittage aus Harz, die uns
träge die Beine herunterliefen,
wenn wir auf der Veranda saßen
und deine Mutter erschien
in dieser ärmellosen Bluse,
die überm Nabel verknotet war.
Dies Stimme, wenn sie fragte:
Kleine Erfrischung, Jungs?
Und wenn sie dann den Krug
selber gemachter Zitronenlimonade
auf den Tisch stellte,
da war es, als setze sich das
goldgelbe Licht dieses Nachmittags
in Bewegung und rollte mit uns
ganz langsam zu Tal.
Jahrtausende später
wird man uns finden
gefangen in solchen
Bernsteinmomenten,
winzige Einschlüsse: du, ich,
deine Mutter und der Durst,
den nie ein Getränk zu löschen
vermochte.
(aus: Hellmuth Opitz, In diesen leuchtenden Bernsteinmomenten. Bielefeld 2017)
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