Niemand kennt heute noch Heberto Padilla. Ich erfuhr von ihm, als ich beim Blättern in Enzensbergers „Tumult“ auf sein Gedicht (S.174f) stieß:
Die Reisegefährtin
Sie wirft ihren Lehrgang fort
Marxismusleninismus
meine Reisegefährtin
Sie steht im Abteil
und steckt den Kopf aus dem Fenster
und fängt an zu schreien:
Da draußen schreit sie geht die Geschichte
da draußen huscht etwas vorbei
schwärzer als eine Krähe
gefolgt von einem Gestank
feierlich wie der Arsch eines Königs.
Der Sprecher im Gedicht beschreibt in den ersten sechs Versen eine Alltagsszene: eine Fahrt mit dem Zug, die Frau gegenüber trennt sich von ihrem Lehrbuch über den Marxismus-Leninismus, geht zum Fenster und beginnt zu schreien. Die nächsten fünf Verse, gesprochen aus der Perspektive der Passagierin, stellen den Realismus der Szene in Frage: Sie sehe draußen die Geschichte und diese habe eine schwarze, stinkende Gestalt. Der Sprecher kommentiert das Verhalten und die Worte der Passagierin nicht, ihre Motive und mögliche Hintergründe der Szene bleiben ungeklärt.
Dieses Gedicht und andere Texte Padillas, die er Ende der 60er Jahre schrieb, verstand die Staatsmacht als kritischen Kommentar zur Lage im Land zehn Jahre nach der Revolution und zwang den jungen Autor in einem Schauprozess, seine konterrevolutionären Absichten einzugestehen und zu widerrufen. Die Intervention von europäischen und amerikanischen Schriftstellern, unter ihnen Sartre, Beauvoir und Sonntag, erreichte, dass Padilla lediglich Hausarrest erhielt.
Padilla durfte 1980 in die USA ausreisen. Über sein Leben dort schreibt Enzensberger: „In den USA führte er ein glückloses Dasein. Zwar hat es noch einen Roman und Gedichte von ihm gegeben, aber von seiner öffentlichen Erniedrigung hat er sich nie wieder erholt. Seine Frau Belkis verließ ihn, er trank zu viel und erlitt einen Herzanfall, an dem er im September 2000 in Auburn, einer Kleinstadt im Osten von Alabama, gestorben ist.“
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