Hinter der Tür das Meer

Herr B. Bürgerlichkeit und Revolte

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Als alles besprochen war und B. schon begann, seine Unterlagen einzusammeln, fragte er: “Die Reproduktion dort über dem Sofa - ist das ein Bild von Edward Hopper?“

B. ist Versicherungskaufmann, ein korpulenter, kleiner Mann um die 50, seit wenigen Wochen Bezirksdirektor seiner Gesellschaft, nachdem sein Vorgänger bei einem Kundenbesuch einem Herzinfarkt erlegen war. B. hatte in der letzten halben Stunde vergeblich versucht, mich vom Sinn der Verlängerung meiner Unfallversicherung zu überzeugen, die im Sommer auslaufen würde.

B. hatte mich bereits zu Beginn unseres Gespräches überrascht, als er von einem Konzert von Andrea Berg in H. erzählte – das habe ihm sehr gefallen; denn er habe eine Schwäche für Sängerinnen im Domina-Look, die außerhalb ihrer Rollen kreuzbrave Mittelschichtsfrauen seien; die Berg z.B. sei vor ihrer Karriere Krankenschwester gewesen und habe inzwischen das Bundesverdienstkreuz erhalten. Seltsamer Vogel, dachte ich, wie kann der glauben, ich interessierte mich für Andrea Berg?

Nun also Hopper.

„Ja“, sagte ich, „ ‚Rooms by the Sea‘, 1951 entstanden. Wir haben die Reproduktion auf der Hopper-Ausstellung in Essen gekauft, Anfang der 90er – glaube ich. Gefällt es Ihnen?“

„Sehr. Ich habe mal ein paar Semester Kunst auf Lehramt studiert, bevor ich Versicherung gelernt habe. Ja, der Hopper, wie der mit dem Licht umgeht!“

„Ich finde das Meer so schön, das Blau und die Perspektive des Betrachters , die die Illusion weckt, man könne direkt aus dem leeren Zimmer ins Meer gehen. Das Surreale. ‚Unter dem Pflaster liegt der Strand‘ – hieß es mal in den 60er Jahre.“

„Ach, bei Hopper darf man nicht sofort nach Symbolen und Sinn suchen. Der hat sein Leben lang versucht, das Licht zu malen und Räume, in denen manchmal auch Menschen sind, eher beiläufig. Sie sehen, wie hier das Licht vom Meer durch die Tür in den Raum fällt und im hinteren Zimmer auch. Und wie dieses Licht verschiedene Töne von Weiß, Blau, Grau und Gelb auf Wänden und Boden hervorruft. Ganz phantastisch!“

B. strahlte. Aber ich bestand auf meiner metaphorischen Deutung des Bildes, indem ich auf den angedeuteten möblierten Raum im linken Bildhintergrund verwies, der zu dem leeren Zimmer im Kontrast stehe und sowas wie bürgerliche Wohlanständigkeit ausstrahle. Ordnung und Phantasie, Bürgerlichkeit und die Illusion der Revolte – das sei, meiner Meinung nach, die Botschaft des Bildes.

B. zuckte die Achseln. Als wir zur Tür gingen, sagte er, er komme ja in viele Wohnzimmer, und für ihn sei es sehr interessant zu sehen, was dort alles so an den Wänden hänge und in den Regalen stehe. Kürzlich sei er beim Prokuristen eines mittelständischen Unternehmens gewesen, und dort habe im Regal eine kleine Lenin-Büste gestanden. Welche Geschichte damit wohl verbunden sei? Er habe aber nicht zu fragen gewagt.

Während wir uns verabschiedeten, sagte B.: „Wir haben übrigens eine sehr gute Pflegezusatzversicherung. Wenn Sie Interesse haben, rufen Sie mich an!“

Das Bild von Edward Hopper lässt sich hier betrachten: http://www.ibiblio.org/wm/paint/auth/hopper/interior/hopper.rooms-sea.jpg

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

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