Nach dem Besuch bei Tante Frieda (93), der wir nur von der Straße aus zuwinken konnten, und dem Kauf eines Räucheraals am Dümmer See nahmen wir Kurs auf das Rehdener Geestmoor, wo Tausende Kraniche auf ihrem Weg von Skandinavien nach Südspanien einen Zwischenhalt einlegen, um sich auf den abgeernteten Maisfeldern satt zu essen.
Gegen 18 Uhr, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, erschienen am Himmel große Schwärme dieser Vögel in disziplinierten V-Formationen und setzten unter lautem Rufen und Geschnatter zur Landung in ihren Schlafplätzen an. Paare und Individuen gab es auch, aber selten. Die Windkraftanlagen mit den roten Warnleuchten und die mit Fernrohren und Kameras bewaffneten menschlichen Beobachter schienen sie nicht zu stören. Gegen 18:30 Uhr war der Himmel dunkel und leer, das Moor war wieder ruhig.
Auf der Rückfahrt passierten wir an der B 239 ein voll erleuchtetes Bordell, vor dessen giftgrün illuminiertem Portal ein einsamer, weißer Kleinwagen parkte.
In einer Raucherpause auf einem Parkplatz kramte B. einen Zettel aus ihrer Tasche und las (mit Betonung) das berühmteste deutsche Kranich-Gedicht vor:
Die Liebenden
Seht jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon als sie entflogen
Aus einem Leben in ein anderes Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Daß also keines länger hier verweile
Und keines anderes sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen:
So mag der Wind sie in das Nichts entführen.
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr? – Nirgend hin. Von wem davon? – Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. – Und wann werden sie sich trennen? – Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.
„Ach, dieser Brecht“, sagte sie und wiederholte den letzten Vers, „mit seiner ewigen Coolness kann der jede Romantik zerstören.“
Zuhause angekommen waren wir froh, unseren 49. Hochzeitstag in solch entspannter Weise begangen zu haben. Aber im nächsten Jahr, nahmen wir uns vor, würden wir ohne Corona und mit voller Kapelle feiern.
Und dann gab's Aal (mit Rührei und Schwarzbrot).
Kommentare 8
Danke, Koslowski.
Was sind das für Zeiten (schon wieder Brecht!), in denen wir "Charlie" sind oder "Samuel Paty" sind oder einfach nur ein trotziges "Je suis prof" in den Himmel recken. Da hat das "Bald. So scheint die Liebe den Liebenden ein Halt." schon fast etwas Tröstliches. "Wir sind alle Kraniche".
Sieh da! Sieh da, Timothea, die Kraniche der Arminia?
Im nächsten Jahr geht's doch hoffentlich mit Tante Frieda auf die Alm, wenn Tante Käthes Bayerkusen aufläuft?
Und natürlich: Many happy returns. Für Hochzeitstage - und Arminia ...
Etwas Tröstliches? Na ja, der letzte Vers ist wohl so zu verstehen, dass Liebe als fester Anker im Leben doch nur eine Illusion ist.
Danke übrigens für deine Blogs. Habe viel über Frankreich gelernt.
Ich danke für die guten Wünsche und die Assoziation mit den Arminen. Die Liebe ihrer Fans ist denen tatsächlich ein Halt - was aber nicht vor Niederlage und Abstieg schützt.Wie es in dieser Saison kommt? Das wissen nur die Ibiche des Kranikus!
das entrückte aufschauen zu den luft-geistern,
die augenblicks-sicherheit der verliebten,
kontrastiert zum klebrigen moor, in dem wir stehen.
trotzig generieren wir: was uns tröstet.
Schöne Herbstbetrachtung zu diesem Wohlgefühl, wenigstens in mancher Liebe dauerhaft aufgehoben zu sein, Herr Koslowski.
Das können Kraniche auslösen, die auch über den Südwesten ziehen und beständig rufen. Allerdings habe ich sie noch nie schnattern hören.
Kraniche sollen sich, mit Ausnahmen, recht treu sein.
Nur weiter
Christoph Leusch
Das berühmtes Lied aus der verflossenen DDR stamtm von Kurt Demmler - einem höchst tragischen Akteur in der DDr-Liederszene mit wunderbaren Texten
Einer geht so:
Die Kraniche fliegen im Keil
So trotzen sie besser den Winden.
So teilen sie besser die Kräfte weil
Die Starken bilden den vorderen Teil
Und die Schwachen fliegen hinten.
Und kommen die Kraniche an
Am Ziel ihrer Reise dann,
Haben die Stärkeren größere Arbeit getan.
Und loben die Schwächeren von hintenan
Die doch auch ihr Bestes gaben.
Dann fressen die Kraniche Fisch
Soviel die Mägen verlangen.
Die Starken die haben nicht mehr für den Tisch
Als die Schwachen vom guten silbernen Fisch
In den Teichen am Ziel sich gefangen.
Lasst uns wie die Kraniche sein,
Dass wir unser Möglichstes geben.
Der Starke im Groß und der Schwache in klein
Und trinken am Abend den gleichen teuren Wein
Auf ein noch viel besseres Leben.
(Worte: Kurt Demmler Weise: Kurt Demmler)
Die Kraniche hören wir sehr oft bei Tag und selbst in der Nacht. Diese Flugrufe dienen wohl auch der Abstimmung in den Keilformationen. Es stoßen ganze Schwärme zusammen, schrauben sich in die Höhe und gleiten weiter.