Luisa

Konstrukte Begegnungen am Kiosk

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Morgens 08:00 Uhr, 5 Grad, Nieselregen, grau. Vor dem Eingang zum Kiosk von Frau U. stoße ich auf eine Frau um die 60 mit tiefrot geschminkten Lippen im gelben Ostfriesennerz und unter einer violetten Strickmütze. Sie summt ein Lied vor sich hin: „Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen“. Ich lasse ihr den Vortritt, sie nickt und lächelt mich im Vorbeigehen an.

Eine auffallende Erscheinung. Während sie im Portemonnaie nach Geld für BILD und DIE ZEIT sucht, bastle ich ihr eine Biographie: Musiklehrerin an einer Waldorfschule mit halber Stelle, macht seit Jahrzehnten Sommerferien auf Wangerooge, träumt aber von Spanien, liest BILD und DIE ZEIT, weil sie Kai Diekmann und Giovanni di Lorenzo so geil findet, und hat heute einen unterrichtsfreien Tag. Ihr Name sei Luisa.

Luisa hat das Kleingeld zusammen, wünscht einen guten Tag, und noch bevor sie den Laden verlassen hat, beginnt sie zu summen: „Es grünt so grün…“.

Frau U. ist ratlos. „Wissen Sie, wer das ist?“, fragt sie mich. „Das ist Luisa“, sage ich, „sie ist Musiklehrerin und hat heute einen unterrichtsfreien Tag. Sie träumt davon, im nächsten Sommer Urlaub in Spanien zu machen.“ Frau U. staunt, und während sie mir das Wechselgeld für Zigaretten und Frankfurter Rundschau herausgibt, murmelt sie: „Das hätte ich jetzt nicht gedacht.“

Auf dem Heimweg treffe ich den Luhmann-Schüler mit dem schwarz-weiß-blauen Arminia-Schal. Ich erzähle ihm von meiner Begegnung mit Luisa, und ohne zu zögern ordnet er den Vorfall in die Gedankenwelt seines Meisters ein: „Luhmann bestreitet nicht, dass es Realität gibt. Aber er setzt die Welt nicht als Gegenstand, sondern als Horizont voraus. Also unerreichbar. Und deshalb bleibt keine andere Möglichkeit als: Realität zu konstruieren und eventuell: Beobachter zu beobachten, wie sie Realität konstruieren.“

Zuhause setze ich den Kaffee auf, zünde mir eine Zigarette an, greife zur FR und vertiefe mich in den Artikel von Harry Nutt, der aus gegebenem Anlass über die anschwellenden Kulturkämpfe um nationale Identität nachdenkt.

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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