Über eine aktuelle Textsorte

Stammtischdiskurs Die Gutmenschen ereifern sich, verweigern Selbstkritik und hören im Regen einem Gedicht zu

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

„Karl Kraus hat festgestellt“, sagte N., während sich dunkle Wolken über dem Siggi sammelten, „dass eine Satire, die der Zensor versteht, zu Recht verboten wird. Danach hat Erdogan alles richtig gemacht, als er Merkel aufforderte, den Böhmermann vom Spielfeld zu nehmen.“ „Widerspruch!“, riefen wir. „Der Kerl hat nichts verstanden. Er hat nicht verstanden, dass Böhmermann in seinem Text mit den Mitteln der Satire der Frage nachgegangen ist, ob es Grenzen der Satire gibt und wo diese verlaufen, wenn es sie gibt. Seine Provokation hat funktioniert: Der Autokrat rechtfertigt die Satire, indem er die Bestrafung des Satirikers fordert, und die demokratische Kollegin rechtfertigt sie, wenn sie aus Gründen der Staatsraison einem Prozess über die Schuld des Satirikers zulassen sollte. Das alles ist eine prima Realsatire.“ „Na gut“, erwiderte N., „wenn wir in der Satire leben, ist es natürlich schwer, den satirischen Gehalt einer literarischen Satire zu erkennen. Und die hat es schwer, die reale Satire zu toppen. Wer hätte schon gedacht, dass der befreundete Cellist eines Präsidenten deshalb Konten in Panama unterhält, weil er so hochwertige Instrumente für die musikalische Ausbildung der Landeskinder finanzieren konnte.“ „Moment, N., „riefen wir, „jetzt bedienst du aber tiefsitzende russophobe Feindbilder. Linke sollten das nicht tun.“

„Links ist ein gutes Stichwort“, sagte ich. „Habt ihr den Aufsatz des linken Soziologen Wolfgang Streeck gelesen? Dass die Willkommenspolitik Merkels der Versuch war, nach der politischen und ökonomischen Herrschaft nun auch die moralische Macht über den Rest Europas zu ergreifen? Was haltet ihr von seinen Argumenten?“ Leider stellte sich heraus, dass niemand den ganzen Streeck gelesen hatte. „Haben wir leider vergessen.“ Wahrscheinlich ein Akt der unbewussten Abwehr einer Position, die die Moralität unserer Mitarbeit in der Flüchtlingshilfe in Frage stellen könnte, dachte ich.

Die Wolken über dem Siggi waren dunkler geworden und wir waren bereit aufzubrechen, als O., unser Poet, uns noch über seine Reisepläne informieren wollte: „Entweder Island“, sagte er, „mit der Fähre von Dänemark, dann ein paar Tage Geysire, Steilküsten und die Demo gegen die korrupte politische Elite. Oder Japan mit Flugzeug, Kirschblütenfest und Workshop zu Philosophie und Handwerk des Haiku. „Mein Gott, O.“, sagten wir, „wie kommst du denn auf diese Alternative?“

„Durch dieses Gedicht eines isländischen Kollegen, ich zitiere mal in Auszügen:

Zu aller Überraschung
zog das Haiku über das Feld
hatte an allem etwas auszusetzen
und schwer bewaffnet
fing es an, auf Versmaße einzuschlagen
links und rechts.

Unmengen freier Rhythmen
zogen den kürzeren,
die Alliterationen wurden liquidiert
Stabreimblut floß aus der Gurgel.

…..

Parallelismen, Antithesen,
Wiederholungen,
Nonsens, Katalexen,
schwülstige Metaphern
und Plattitüden
stöhnten im Takt
des dröhnenden Todes
als ein japanisches Versmaß
mit gekreuzten Beinen
über das Feld zog,
ein Wort über das andere geschlagen
mit nahezu unverschämter
RUHE.

Ein tolles Gedicht mit einer Pointe, die ich hier nicht verrate.“

Die Wolke entlud sich über dem Siggi, wir wünschten O. eine gute Reise, wohin auch immer, und eilten mit schnellen Schritten zur Station der Stadtbahn.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden